© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Kiffen bis der Arzt kommt
Die geplante Cannabis-Legalisierung dürfte nicht nur die Psychiatrie in Deutschland stärker belasten
Jörg Schierholz

Der Ampel-Koalitionsvertrag will „Mehr Fortschritt wagen“ – und dazu zählt für SPD, Grüne und FDP auch die „kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genußzwecken in lizenzierten Geschäften“. Dadurch werde die Rauschgift-Qualität „kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet“. Auch „Modelle zum Drugchecking“ und „Maßnahmen der Schadensminderung“ sollen ausgebaut werden. Der Links-Fraktion reicht dies nicht, denn „in Portugal, Tschechien, der kanadischen Provinz British Columbia und dem US-Bundesstaat Oregon wurde längst der Konsum auch von sogenannten harten Drogen entkriminalisiert“, heißt es in ihrem Bundestagsantrag (20/2577).

Modellprojekte für Crystal Meth, Ecstasy oder Heroin plant die Bundesregierung noch nicht, aber für die Freigabe von Haschisch, Marihuana & Co. sollen fünf Expertenanhörungen starten: zum Gesundheits- und Verbraucherschutz; zu Jugendschutz und Prävention; zu Lieferketten und ökonomischen Fragen; zu Strafbarkeit, Kontrollmaßnahmen und Lizenzierung sowie zu den internationalen Erfahrungen. Der Konsultationsprozeß „Cannabis – aber sicher“ soll anschließend in ein Gesetzgebungsverfahren münden. Schon im Bundestagswahlkampf 2002 war die Freigabe ein Thema, welches die Grünen aber unter Gerhard Schröder nicht durchsetzen konnten.

Weltweit die am häufigsten konsumierte illegale Substanz

Inzwischen konsumieren drei bis vier Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig Cannabis; der Besitz kleiner Mengen zum Eigengebrauch wird strafrechtlich nicht verfolgt. In etlichen Medien bis hin zum Deutschen Ärzteblatt wird seit längerem der Konsum ohne Reue als cool, hip und modern propagiert. Cannabis ist weltweit die am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Nach UN-Schätzungen konsumieren weltweit 125 bis 227 Millionen Menschen Cannabis. Ist es somit nicht ehrlicher, das zu legalisieren, was längst schon Realität ist und Cannabis dem Alkohol mit jährlich 40.000 Toten und Millionen Abhängigen gleichzustellen? Ließe sich so nicht auch der Schwarzmarkt austrocknen?

Über die Risiken wird weniger diskutiert; Interessengruppen bestreiten das Suchtproblem. Beim Rauchen von Cannabis gelangt Tetrahydrocannabinol (THC) über die Lungen und die Blutbahn ins Gehirn. Dort entfaltet das THC seine Wirkung über die Cannabinoid-Rezeptoren, die mit Körperbewegungen, Lernen, Gedächtnis und dem Belohnungssystem verknüpft sind. Die Aktivierung des mesolimbischen Belohnungssystems ähnelt biochemisch dem Opiat-Konsum und erzeugt das Gefühl, etwas Schönes und Wichtiges zu erleben. Eine Dauerstimulation führt zu Gewöhnung und so zum Bedürfnis nach einer Dosis-Steigerung. Das führt zu einer Gegenregulation mit negativen Auswirkungen auf Motivation, Lernvermögen, Aufmerksamkeit und Stimmung.

Die Wirkungen von Cannabis hängen von der Zusammensetzung, der Dosis, der Häufigkeit, der Applikationsform sowie der individuellen Disposition und Konsumerfahrung ab. Seit den siebziger Jahren wurde der THC-Gehalt durch gezielte Züchtung hochpotenter Pflanzen auf das 20- bis 100fache erhöht. Cannabidiol (CBD) als weiterer Bestandteil hat zwar gegenteilige Effekte, die die negativen THC-Wirkungen ausgleichen können, aber CBD ist in neueren Züchtungen nicht mehr vorhanden. Ältere Studien zur angeblichen Harmlosigkeit von Cannabis sind daher ohne Aussagekraft.

Cannabis-Konsum führt zu Herzrasen (Tachykardie) und Gefäßerweiterung (gerötete Bindehaut/„rabbit eyes“) und Appetitsteigerung. Ein Joint hat ähnliche Bestandteile wie Tabak, jedoch mit höheren Konzentrationen an Kanzerogenen; er fördert eine Bronchitis und die Lungenblähung (Emphysem). Angst bzw. Panikattacken können bei bis zu einem Viertel der Konsumenten auftreten. Depressive Verstimmungen sind häufig, und das Suizidrisiko ist erhöht. Auch Erschöpfung und Motivationsverlust werden häufig berichtet. Psychoseartige Zustände ereignen sich bei zehn bis 20 Prozent der regelmäßigen Konsumenten. Zwischen 50 und 90 Prozent aller Cannabis-Abhängigen haben eine weitere psychische Störung bzw. ein Problem mit Alkohol- oder anderen Suchtsubstanzen.

Einige Studien belegen einen positiven Zusammenhang von Cannabis-Konsum und bipolaren Störungen bzw. manischen Symptomen. Aufmerksamkeit, Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen sind nachweisbar reduziert, und geistige und psychomotorische Fähigkeiten verschlechtern sich. Verlängerte Reaktionszeiten, schlechtere Koordinations-, Gedächtnis- und Konzentrationsleistungen werden schon nach geringen THC-Dosen gemessen. Noch vier Wochen nach dem letzten Joint können verminderte Intelligenz- und Gedächtnisleistungen gemessen werden. Cannabis ist nach Alkohol die häufigste Droge, die an Autounfällen beteiligt ist.

Wird Cannabis mehr als einmal wöchentlich konsumiert, kann es zu einem Entzugssyndrom mit Unruhe, Schlaflosigkeit, Aggressivität, Appetitlosigkeit, Zittern und Schwitzen kommen – es entsteht Abhängigkeit. Über zehn Prozent der Konsumenten gelten als cannabissüchtig, in Deutschland sind das mindestens 300.000 Personen. Längerer Konsum kann zu einer Veränderung der Hirnrezeptoren führen, die empfänglicher für die Opiatwirkung werden und damit den Konsum härterer Drogen anbahnen („Gateway-Hypothese“).

UN-Bericht warnt vor Überlastung der westlichen Gesundheitssysteme

Die holländischen „Coffee Shops“, von Freigabebefürwortern als Vorbild propagiert, konnten die Drogenszene, die Rauschgiftkriminalität und die Heroinabhängigkeit kaum eindämmen. Der neueste Bericht des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (World Drug Report 2022) führte aus, daß die Legalisierung in Kanada den illegalen Markt etwas schrumpfen ließ; in Uruguay mit ähnlichen Maßnahmen hingegen stieg der illegale Konsum an. Die Gesamtzahl der Suchtbehandlungen in Europa und den USA ist, besonders nach den Corona-Maßnahmen, sprunghaft angestiegen. Die Autoren warnen vor einer Überlastung der westlichen Gesundheitssysteme.

Cannabis ist keineswegs ein harmloses Genußmittel, sondern bringt erhebliche Risiken mit sich. Da mindestens zehn Prozent der Konsumenten von Abhängigkeit, fehlgeschlagener Persönlichkeitsentwicklung, Schulabbruch oder einer harten Drogenkarriere betroffen sein können, kommt man alleine in Deutschland auf Hunderttausende Einzelschicksale. Im Rahmen der Legalisierung von Cannabis ist mit einer Welle neuer Konsumenten zu rechnen. Wie die jetzt schon überforderte Psychia­trie eine vermehrte Aufnahme drogenassoziierter Akutaufnahmen bewältigen soll, bleibt schleierhaft.

Aufgrund der Brisanz und gesundheitlichen Dimension ist eine ehrliche, von Fakten und Sachkenntnis getragene Diskussion in Politik und Gesellschaft notwendig: Wie kann der Cannabis-Konsum einerseits entkriminalisiert und gleichzeitig die Gesundheit Jugendlicher besser geschützt werden? Es wird keine einfachen Lösungen geben. Für Ärzte gilt: Primum non nocere oder Safety First.