© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

„Das ist soziale Ächtung“
Meinungsfreiheit: „Cancel Culture. Demokratie in Gefahr“, warnt der Publizist Kolja Zydatiss im gleichnamigen Buch. Auf einer Internetseite hat er zahlreiche Fälle gesammelt. Nun zeigt er, wie bedrohlich die Entwicklung ist
Moritz Schwarz

Herr Zydatiss, wie gefährdet ist unsere Demokratie?

Kolja Zydatiss: Meine Beobachtung ist, daß sie zwar immer feierlicher beschworen, tatsächlich aber mehr und mehr ausgehöhlt wird.

Inwiefern? 

Zydatiss: Weil bestimmte gesellschaftspolitische Interessengruppen nach immer mehr Einfluß auf unsere Gesellschaft streben, um sie umzugestalten. Doch selbst wenn sie auf demokratischem Wege die „Kommandohöhen der Politik“ erobern können, bleibt – dank der freiheitlichen Konzeption unseres Grundgesetzes – ihr Zugriff auf die Gesellschaft begrenzt. Daher müssen sie, dort wo staatliche Gesetze nicht hinreichen, ihre politischen Ideen auf andere Weise durchsetzen: etwa durch das Organisieren gesellschaftlicher Ausgrenzung, wenn nicht sogar sozialer Vernichtung von allem, was ihren Ideen entgegensteht – bekannt auch unter dem Namen „Cancel Culture“. 

Sie meinen, die Politik organisiert die Cancel Culture? 

Zydatiss: Nein, ich habe nicht von „der Politik“ gesprochen – das wäre zu einfach –, sondern lediglich von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und Strömungen, die politische Normen dort durchsetzen, wo der Staat nicht hinreicht. Das kann mitunter eine erschreckende Dynamik entfalten. Ein Beispiel, das ich auch in meinem Buch bringe: 2013 flog die südafrikanische PR-Beraterin Justine Sacco von London zurück nach Kapstadt. Kurz vor dem Start schrieb sie noch schnell auf Twitter – wo sie übrigens nur 170 Follower hatte: also so gut wie nichts – einen, wie sie meinte, flotten Spruch: „Ab nach Afrika! Hoffe, ich hole mir kein Aids. Nur ein Scherz – bin ja weiß.“ Dann schaltete sie ihr Telefon ab, lehnte sich zurück und schlief ein. Als ihre Maschine elf Stunden später landete, war ihr im Grunde völlig unbedeutender Tweet zum globalen Top-Trending-Thema bei Twitter geworden! Tausende hatten sich über sie empört, ihr US-Arbeitgeber sie sogar gekündigt. Eine Chance, sich zu erklären, bekam Justine Sacco nicht.    

Aber ist das nicht schlicht ein Fall klassischer sozialer Kontrolle, die es in allen Gesellschaften gibt?  

Zydatiss: Der Spiegel-Journalist Tobias Becker hat genau diesen Unterschied anschaulich gemacht, als er dazu schrieb: „Wenn Sacco diesen Witz bei einer Privatparty gemacht hätte, bei einer Geschäftskonferenz oder auf einem Empfang, dann hätte sicher jemand irritiert geschaut, vielleicht hätte sie sogar jemand zurechtgewiesen. Und dann hätte sich eine Diskussion entsponnen, wie der Witz eigentlich gemeint sei. Aber hätte sie jemand beschimpft? Ihren Rausschmiß verlangt? Sie gar bedroht?“

Mag sein, allerdings auch früher wurde „gecancelt“, wer sich den Regeln nicht unterwarf, wie etwa Heinrich Manns berühmter Roman „Professor Unrat“ zeigt, dessen Protagonist ja genau so zum Ausgestoßenen wird.  

Zydatiss: Stimmt, aber eben davon hat sich unsere freie, plurale Gesellschaft wegentwickelt. Nun aber kommt genau das überwunden Geglaubte unter neuem Namen wieder. Finden Sie das nicht höchst alarmierend? Wobei ich auch Unterschiede zwischen heutiger Cancel Culture und der repressiven Moral früherer Zeiten sehe: So ging es damals vor allem um Fragen der bürgerlichen Sittlichkeit oder um gesellschaftliche Randgruppen – es war also eine Orthodoxie der Mehrheit, die tradierte Normen durchsetzte. Cancel Culture dagegen basiert nicht auf einer existierenden Kultur – sondern versucht eine solche erst zu schaffen, wozu sie auch eine neue Orthodoxie kreiert. Und während sie früher die Opfer waren, sind es heute in der Regel Randgruppen beziehungsweise randständige Meinungen, die nun ihrerseits die Mehrheit beziehungsweise deren Einstellungen und Lebensweise zu canceln versuchen – wenn nicht sogar schon wissenschaftliche Tatsachen, wie etwa daß es Mann und Frau gibt. 

Doch existiert, was Sie da diagnostizieren, so tatsächlich: Ist das nicht vielmehr der normale demokratische Diskurs? Zu dem gehört, daß jede Meinung nun mal auch Kritik provoziert, die sie aushalten muß. 

Zydatiss: Das ist eines der Argumente, das man immer wieder von jenen hört, die auf dem Standpunkt stehen, es gäbe bei uns in puncto Meinungsfreiheit kein Problem. Ein anderes ist, daß das Phänomen zwar existiert, tatsächlich aber begrüßenswert ist – weil Fortschritt einer sich „modernisierenden“ Gesellschaft, die endlich sensibel für diskriminatorische Muster werde und diese bekämpft. Wobei der Name Cancel Culture aber zumeist als „rechter Kampfbegriff“ abgelehnt wird, der diese Modernisierung nur diskreditieren solle.

Und kann da nicht auch etwas dran sein?

Zydatiss: Ich halte diese Einwände vielmehr für ein Symptom dessen, daß wir mehr und mehr verlernen, uns auf demokratische Weise zu streiten. Denn wer Canceln bejaht, egal wie er es nennt, dem geht es sichtbar nicht mehr um Diskurs – wie er aber für die Demokratie nun einmal kennzeichnend ist! Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel für demokratisch-diskursive Kritik: „Das Buch des Autors Kolja Zydatiss ist kompletter Stuß, weil ...“ Und zum Vergleich eines für Cancel Culture: „Wegen seines Stuß-Buchs muß dieser Zydatiss ausgeladen beziehungsweise darf er nicht mehr eingeladen werden, müssen ihm sämtliche Plattformen entzogen, seine Kunden und Geschäftspartner über ihn ‘informiert’ werden, und niemand sollte sich mehr öffentlich mit ihm sehen lassen oder auch nur dort schreiben oder auftreten, wo er noch schreiben oder auftreten darf!“ Sie sehen, es geht nicht um „Kritik“ oder „Gegenwind“, wie im demokratischen Diskurs – sondern um Bestrafung, Mundtotmachen und soziale Ächtung: Demokratie ist Diskurs und Kritik, Cancel Culture ist Diskursabbruch und Repression. 

Auf der durch Ihr „Freiblickinstitut“ eingerichteten Seite www.cancelculture.de sammeln und dokumentieren Sie seit Ende 2019 aktuelle Fälle.

Zydatiss: Ja, und diese zeigen, bei der Cancel Culture geht es nicht nur um Bestrafung des „Schuldigen“, sondern in erster Linie um Erziehung: um den abschreckenden Effekt auf den Rest der Gesellschaft, indem man ihr vor Augen führt, was jenen widerfährt, die sich nicht konform verhalten.  

Als Sie im MDR-Fernsehen Ihr Buch „Cancel Culture. Demokratie in Gefahr“ vorgestellt haben, war die Moderatorin dennoch nicht von deren Existenz überzeugt. 

Zydatiss: Stimmt, aber es ist nachweisbar, daß seit etwa Sommer 2020 auch die etablierten Medien das Phänomen zu thematisieren begonnen haben. Offenbar ist es also keine Einbildung oder gar Verschwörungstheorie, wie manche immer noch behaupten. 

Warum Sommer 2020 – was war der Grund dafür? 

Zydatiss: Bis dahin traf die Cancel Culture vor allem sogenannte Rechte oder Konservative. Nun aber gerieten mehr und mehr Menschen, die zu den sogenannten Progressiven zählen, ins Visier: Weil sie in gewissen Fragen in Widerspruch zu ihrem eigenen politischen Lager stehen, da sie dessen „jüngste modische Ideen“ – das Wort stammt vom britischen Soziologen Frank Furedi – nicht mitvollziehen wollen. Das berühmteste Beispiel ist wohl Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling, die zwar Feministin ist, aber nicht davon abweichen will, daß es Männer und Frauen gibt. 

Bei „Bild“-TV haben Sie allerdings davor gewarnt, Cancel Culture nur als gesellschaftliches und nicht auch politisches Phänomen zu sehen. 

Zydatiss: Unbedingt, denn was leben uns unsere politischen Eliten denn eigentlich vor? Nehmen Sie zum Beispiel das schwarz-rote Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017: Das hat zu einem wahnwitzigen Overblocking geführt, also zum völligen Ausufern von Blocken und Löschen im Internet. Betroffen war etwa selbst rechtlich komplett von der Meinungsfreiheit gedeckte Kritik an der Politik des Verkehrsministers Andy Scheuer oder am Islam oder sogar das Teilen eines Heinrich-Heine-Zitats! Anderes Beispiel: die Ratifizierung des Uno-Migrationspaktes 2018, in dem es heißt, daß sich die Unterzeichner verpflichten, auf ein Klima in den Medien hinzuwirken, damit Zuwanderung als Bereicherung dargestellt wird. Da fragt man sich als Demokrat doch: Wo leben wir eigentlich? In meinem Buch beschreibe ich meist Fälle, in denen der Impuls zum Canceln von radikalen Gruppen ausgeht. Doch im Grunde verdichten sich nach meiner Beobachtung die Hinweise, daß diese Extremisten nur das ausleben, was ihnen von Teilen unserer Politik und Gesellschaft vorgelebt wird – nämlich, eigentlich sei Meinungsfreiheit gefährlich!

Das bringt uns zu der Eingangsfrage zurück, die ja an den Untertitel Ihres Buches angelehnt ist: „Demokratie in Gefahr“.

Zydatiss: Schauen Sie sich in Politik und Gesellschaft doch um: In bereits dramatischem Ausmaß scheinen wir vergessen zu haben, was Demokratie eigentlich ist – nämlich ein ergebnisoffener Prozeß! Der aber funktioniert nur, wenn in der Öffentlichkeit auch ein breites Spektrum an Meinungen vorhanden ist, die diesen speisen. Denn ohne das nimmt die Ergebnisoffenheit natürlich mehr und mehr ab – das Resultat wird immer stärker vorbestimmt. Und die Cancel Culture bewirkt durch die von ihr erzeugte Angst vor Bestrafung genau das: eine immer größere Verengung des öffentlichen Meinungsspektrums, sie erodiert also die Voraussetzung für Demokratie – und damit übrigens auch das Verständnis für Demokratie.

Warum das?

Zydatiss: Sehen Sie, bis auf die grundsätzlichen aber wenigen Grenzen, die das Grundgesetz zieht, gibt es aus Sicht der Demokratie keine „richtige“ oder „falsche“ politische Entscheidung, keine „fortschrittliche“ oder „rückschrittliche“ Politik. Solche Bewertungen fallen in den Bereich der persönlichen Meinungen, der Weltanschauungen und der politischen Parteien – aber nicht in den der Demokratie.

Wie Justitia muß Demokratie also „blind“ sein?

Zydatiss: Genau. Solange sie nach deren Regeln zustande kommen, sind alle politischen Entscheidungen gleichermaßen demokratisch – egal für wie hanebüchen oder gar gefährlich man sie persönlich hält. Ein sich verengendes Meinungsspektrum aber entwöhnt uns von dieser Vorstellung. Stattdessen wird Demokratie hierzulande in wachsendem Maße mit „Buntheit“, „Weltoffenheit“, „Diversität“ etc. gleichgesetzt. Nichts gegen diese Werte, doch sie gehören in den Bereich der Inhalte, also der Politik, und haben nichts mit der Demokratie, also der Entscheidungsfindung zu tun. Demokratie ist nämlich weder links, rechts noch Mitte – sie ist Volksherrschaft. Oder wie es die Politologin Ingeborg Maus definiert: sie ist die Sache der „Nicht-Experten und Nichtfunktionäre“, denen die gewählten Repräsentanten – also die Politiker – Rechenschaft schulden und die diese abwählen können. 

Als wirklicher Demokrat muß man also akzeptieren, daß die Politik sich ebenso in die eine wie auch in die genau entgegengesetzte Richtung entwickeln kann? 

Zydatiss: Exakt, doch damit haben erhebliche Teile der tonangebenden progressiven Kreise ein Problem, die gewisse Entscheidungen zu akzeptieren einfach nicht mehr bereit sind – etwa die demokratische Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten selbst mit AfD-Stimmen. Aus der Furcht, das angeblich rückständige Volk könne „falsche“ Entscheidungen treffen, versteigen sie sich dazu, ihre eigene Politik mit „der Demokratie“ gleichzusetzen. Die sie folglich auf zunehmend rigide, also undemokratische Weise durchsetzen. Und dies ausgerechnet unter Berufung auf die Demokratie – gerne auch umschrieben als „unsere fundamentalen Werte“: ein Begriff, der, wie der schon erwähnte Frank Furedi schreibt, von der EU-Nomenklatur erfunden, tatsächlich nur die jeweils „jüngsten modischen Ideen“ im Kulturkampf meint.  

Größte Gefahr für die Demokratie sind also nicht mehr wie früher erklärte Antidemokraten, sondern die, die sie am eifrigsten im Munde führen?  

Zydatiss: Diesen Eindruck kann man heute bekommen, aber das ist natürlich kein ernsthaftes Kriterium. Entscheidend ist vielmehr einzig, daß, wer sich wie oben beschrieben verhält, kein Demokrat mehr ist – gleich wie er redet oder welche Gründe er dafür zu haben meint. Oder, um es mit einer Tautologie zu sagen: Demokrat ist nur – wer für Demokratie ist! Das klingt im ersten Moment banal, bedeutet aber, daß nur der Demokrat ist, der jede auf demokratischem Wege herbeigeführte Entscheidung höher achtet als den politischen Inhalt der Entscheidung – ganz egal, welcher Art dieser ist. Und wenn Sie sich in dieser Hinsicht in Deutschland einmal umschauen, werden auch Sie feststellen: Demokratie in Gefahr!






Kolja Zydatiss, ist Autor des Buchs „Cancel Culture. Demokratie in Gefahr“ und Vorstandsmitglied des liberalen Freiblickinstituts, das die Dokumentationsseite cancelculture.de betreibt. Der Psychologe schreibt für diverse Medien und wurde 1989 in Berlin geboren. 

Foto: Ausgrenzung: „Die Angst vor sozialer Bestrafung verengt das öffentliche Meinungsspektrum – damit aber erodiert die Voraussetzung für die Demokratie“