© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not
Bundesreserve Getreide: Trotz gestiegener Bevölkerungszahl hat die Regierung für den Fall einer Versorgungskrise deutlich weniger Vorräte
Christian Vollradt

Politik-Veteranen aus Bonner Zeiten können sich noch daran erinnern, daß in den nächtlichen Verhandlungsrunden im Bundestag während der sogenannten Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses auch über die notwendigen Aufwendungen für den staatlichen Vorrat an Hülsenfrüchten debattiert wurde. Was gelegentlich eher scherzhafte Formen annahm, hatte einen durchaus ernsten Hintergrund.

Im Krisen- oder Verteidigungsfall sollten auftretende Versorgungsschwierigkeiten mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln – also Getreide, Hülsenfrüchte, Fette, Fleischkonserven und Kondensmilch – überbrückt werden können. Die „Bundesreserve Getreide“ und die zivile Notfallreserve sollten auch „unter verteidigungspolitischen Gesichtspunkten in der Nähe der Verbrauchergebiete“ gewährleisten, daß die Einwohner der bundesdeutschen Ballungsgebiete „30 Tage lang mit einer warmen Mahlzeit versorgt werden können“. 

Mit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges verlor die Öffentlichkeit das Interesse an solcher Krisenvorsorge. Nach wie vor unterhält die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Bundesreserve Getreide, untergebracht in mehreren geheimen Lagern. Pro Jahr kostet das einen zweistelligen Millionenbetrag, alle zehn Jahre muß der – vor Ungeziefer aufwendig geschützte – Bestand ausgetauscht werden.

„Bund muß seine Vorräte deutlich aufstocken“ 

Standen im Jahr 1978 noch 3,31 Millionen Tonnen Getreide zur Krisenvorsorge für rund 60 Millionen Bundesbürger zur Verfügung, sind es aktuell 705.000 Tonnen für 83 Millionen Einwohner, ergab eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion. Während sich also die Zahl der im Notfall zu stopfenden Münder um rund ein Drittel erhöhte, sanken die gelagerten Krisenvorräte um 62 Prozent. 

Eine Überprüfung der vorzuhaltenden Soll-Mengen fand zuletzt im Jahr 2011 statt, teilte die Bundesregierung in ihrer Antwort, die der JUNGEN FREIHEIT exklusiv vorliegt, mit. Darüber hinaus lagern seit 2015 in Deutschland keine entsprechenden Vorräte der Europäischen Union, sogenannte „EU-Interventionsreserven“ mehr in Deutschland.    Zudem halten Erhebungen zufolge weniger als 20 Prozent der deutschen Haushalte privat so viele Lebensmittel vor, daß sie damit zwei Wochen auskommen könnten. Rund 87 Prozent meinten, ihre Haushalte könnten sich bis zu drei Tage mit ihren Vorräten über Wasser halten.

Während der Selbstversorgungsgrad – also die inländische Herstellung von Produkten im Verhältnis zu ihrem Verbrauch – in Deutschland bei Getreide 101 Prozent, bei Fleisch 121 Prozent und bei Milch knapp 112 Prozent beträgt, liegt er für Obst bei unter 20 Prozent und für Gemüse bei 35 Prozent.

„Auf eine Versorgungskrise ist Deutschland nur unzureichend vorbereitet“, ist der Bundestagsabgeordnete René Springer (AfD) überzeugt. „Die Bestände der Bundesreserve Getreide sind historisch niedrig und wurden zuletzt vor einem Jahrzehnt kontrolliert“, so das Resümee des Autors der Anfrage. Im Namen seiner Fraktion fordert Springer von der Bundesregierung eine „sofortige Überprüfung der Soll-Mengen und eine deutliche Aufstockung der Getreidevorräte.“ Laut Definition ist eine Versorgungskrise ein Szenario, in dem die rund 80 Millionen Menschen „über den freien Markt keinen Zugang zu Lebensmitteln mehr haben und daher hoheitlich versorgt werden müssen“.

Unterdessen hat Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) angekündigt, nun doch die verpflichtende Stillegung von vier Prozent der Ackerfläche pro Betrieb im kommenden Jahr auszusetzen. Gegen eine solche Umsetzung dieser von der EU-Kommission erlaubten Regelung hatte sich der deutsche Ressortchef lange Zeit heftig gesträubt. Auf den Flächen dürfen allerdings nur Getreide (außer Mais), Sonnenblumen und Hülsenfrüchte (außer Soja) angebaut werden. Mit Blick auf die Ernährungskrise in Teilen der Welt sollen für 2023 auch die Regeln zum Fruchtwechsel einmalig ausgesetzt werden. Damit können die Bauern auch Weizen nach Weizen anbauen. Der dürfe allerdings nur auf dem Teller, nicht im Tank oder im Trog landen, betonte Özdemir. Viele Landwirte sehen diesen „Kompromiß“ skeptisch und verweisen darauf, daß sich die Frage, ob der Weizen auf dem Teller landen kann oder nicht, an der Qualität nach der Ernte entscheidet. Die lasse zwangsläufig nach, wenn durch gesetzliche Vorgaben der Einsatz von Dünger und Pflanzenschutz weiter eingeschränkt wird.