© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

In Ostasien zieht ein Sturm auf
Nach Pelosi-Besuch in Taiwan: Die Spannungen zwischen der Volksrepublik China und den USA nehmen zu
Martin Wagener

Spätestens in der Amtszeit von Präsident Donald Trump haben sich die Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und den USA deutlich verschlechtert. Der Besuch von Nancy Pelosi, Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses, in der Republik China (Taiwan) hat das Faß Anfang August 2022 zum Überlaufen gebracht. Die Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping reagierte auf den Vorgang mit einer Mischung aus Sanktionen und militärischen Drohgebärden, um ihrer Sichtweise Nachdruck zu verleihen.

Die Situation erinnert an die letzte große Krise in der Taiwanstraße von 1995/96. Auch damals war ein Besuch der Auslöser. Der Präsident des Inselstaates, Lee Teng-hui, hatte von der Cornell-Universität eine Vortragseinladung erhalten. Er sagte zu und reiste im Juni 1995 zu seiner Alma Mater in den USA. Peking antwortete darauf mit Militärmanövern und Raketentests nördlich sowie südlich der Gewässer Taiwans, woraufhin das Pentagon seine Präsenz in dem Gebiet auf den höchsten Stand seit dem Vietnamkrieg ausdehnte.

Dieses Mal ist einiges anders, da sich China gezielt auf die derzeitige Lage vorbereitet hat. Im Falle einer Eskalation verfügt es über die Möglichkeit, die USA auf Abstand zu halten. Damals war das nicht möglich, heute hat die Volksbefreiungsarmee genügend Kampfflugzeuge, U-Boote, Antischiffsflugkörper und Boden-Luft-Raketen, um eine mögliche Intervention amerikanischer Streitkräfte abzuschrecken.

Die USA lassen offen, ob sie Taiwan verteidigen werden

Daß China gegenwärtig deutlich offensiver vorgeht, hat der Ablauf des jüngsten Militärmanövers gezeigt. Die militärischen Sperrgebiete, angeordnet in Form einer Einkreisung Taiwans, haben eine Seeblockade simuliert. Die Verantwortlichen in Taipeh deuten die Übung sogar als Probelauf für eine Invasion. Hinzu kommen zahlreiche Überquerungen der informellen Mittellinie zwischen dem Festland und der Insel durch Kriegsschiffe sowie Kampfflugzeuge. Zwei weitere Maßnahmen sind neu: Erstmalig haben mehrere Raketen auf dem Weg zu ihrem Ziel den Inselstaat direkt überflogen. Einzelne Sperrgebiete reichen zudem in die Territorialgewässer Taipehs hinein.

Der Friede in der Taiwanstraße war stets fragil, weil die Ansichten Pekings, Taipehs und Washingtons in Fragen der Souveränität nicht deckungsgleich sind. China betrachtet seinen Nachbarn als „abtrünnige Provinz“ und behält sich weiterhin vor, Taiwan gewaltsam in das eigene Territorium einzugliedern. Ein Angriff würde unter anderem dann erfolgen, wenn Präsidentin Tsai Ing-wen den Inselstaat für unabhängig erklärt. Taipeh verzichtet deshalb auf eine offizielle Unabhängigkeitserklärung, macht aber durch diverse symbolische Handlungen deutlich, daß dies nur ein taktisches Zugeständnis ist. Die USA wiederum verfolgen – wie die meisten Staaten der Welt, auch Deutschland – eine „Ein-China-Politik“. Das bedeutet, daß sie Taiwan als Teil Chinas anerkennen.

Im Rahmen dieses Ansatzes scheidet für Wa­shington zwar ein offizielles Bündnis mit Taipeh aus; beide Seiten brachen 1979 ihre gegenseitigen diplomatischen Beziehungen ab. Um dem Ausbruch eines Krieges entgegenzuwirken, liefert die amerikanische Regierung dem Inselstaat aber weiter Defensivwaffen. Hinzu kommt der Ansatz der „strategischen Ambiguität“ als Richtschnur der Politik des Weißen Hauses. Die USA lassen demnach offen, ob sie Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs verteidigen. Peking wird signalisiert, von einer Invasion lieber abzusehen. Taipeh wird bedeutet, eine Unabhängigkeitserklärung zu unterlassen. Ziel ist, auf beide Seiten mäßigend einzuwirken.

Aus chinesischer Sicht ist jedoch fraglich, ob sich die USA noch an diesem Status quo orientieren. Die Führung um Xi Jinping wirft dem Weißen Haus vor, die Prinzipien der Ein-China-Politik zu untergraben. Sie scheint desgleichen den Eindruck gewonnen zu haben, daß unter Präsident Biden die strategische Ambiguität zugunsten Taiwans aufgegeben worden ist.

Peking moniert zahlreiche Überschreitungen der „roten Linie“. So hatte Donald Trump im Dezember 2016 einen Telefonanruf Tsai Ing-wens angenommen; er war zu jenem Zeitpunkt noch nicht im Amt, aber bereits zum Präsidenten gewählt worden. In seine Regierungszeit fällt der Handelskrieg mit der Volksrepublik. Wie sehr die Republikaner damals wohl auch innerlich der „abtrünnigen Provinz“ zugetan waren, hat Ex-Außenminister Mike Pompeo gezeigt, als er im März 2022 die offizielle Anerkennung Taiwans durch die USA gefordert hat.

Das nun von den Demokraten geführte Weiße Haus setzt aus der Perspektive Pekings diese Linie fort. Joe Biden hat bislang dreimal aus dem Amt des Präsidenten heraus erklärt, Taiwan im Falle einer Eskalation verteidigen zu wollen. Washington hat anschließend zwar immer wieder bestätigt, daß es an der Ein-China-Politik festhalten wolle. Doch auf die Führung der Kommunistischen Partei Chinas  (KPCh) wirken solche Beteuerungen angesichts gegenläufiger Taten immer unglaubwürdiger.

Die Spannungen in Ostasien haben damit zugenommen, wenngleich sich die Machtkonstellation natürlich nicht geändert hat. China ist seit Jahren der zentrale Herausforderer der USA, der langfristig im Stile einer asiatischen Monroe-Doktrin danach strebt, die amerikanischen Streitkräfte aus der Region zu verdrängen. Auch Washington hat seine Sichtweise klar formuliert: Es betrachtet Peking als Konkurrenten, in Berichten der Geheimdienste und des Pentagons vom Februar beziehungsweise März 2022 ist von einem „near-peer competitor“ beziehungsweise einem „strategic competitor“ die Rede. Dies schließt an die Nationale Sicherheitsstrategie von 2017 an, in der die Trump-Administration China zu den „revisionist powers“ zählt.

Die Beziehung der beiden Großmächte hat zugleich eine paradoxe Seite. Sicherheitspolitisch betrachten sie sich als Gegner, in ökonomischer Hinsicht wird dagegen umfassend kooperiert. China erzielt seinen Außenhandelsüberschuß zu großen Teilen im Warenaustausch mit den USA – 2021 waren es 353,5 Milliarden Dollar.

Im Gegensatz zur Lage Anfang 1914 in Europa sind sich die beiden Konkurrenten zudem der Dimension ihres Konflikts bewußt, um nicht in die berühmte Thukydides-Falle zu geraten. Sie geht von einer hohen Kriegswahrscheinlichkeit aus, wenn eine aufstrebende Macht versucht, einen Hegemon abzulösen. China und die USA haben daher bislang keine Krise eskalieren lassen. Bleibt es dabei, wird auch der aktuelle Streit in der Taiwanstraße bald zu den Akten gelegt werden.

Die machtpolitischen Ambitionen Pekings waren nie stärker als heute

Es gibt allerdings einige Faktoren, die darauf hindeuten, daß sich die Beziehungen zwischen den USA und China zu einer Neuauflage des Kalten Krieges entwickeln könnten. Die machtpolitischen Ambitionen Pekings sind nie stärker als in der Amtszeit Xi Jinpings vorgetragen worden – etwa im Südchinesischen Meer. Die Machtprojektionsfähigkeiten der Volksbefreiungsarmee steigen kontinuierlich an; ein dritter Flugzeugträger befindet sich bereits in der Testphase. Zudem könnten China und Rußland dazu übergehen, ihre Beziehungen zu vertiefen, um den USA gemeinsam die Stirn zu bieten.

In Washington wiederum haben sowohl die Demokraten als auch die Republikaner den Glauben an einen friedlichen Aufstieg Pekings verloren. Jeder zweite Amerikaner betrachtet China als größten Gegner des eigenen Landes. Wiederbelebte und neue Sicherheitsformate wie das Quad (USA, Japan, Australien, Indien) oder Aukus (Australien, Großbritannien, USA) sind klar gegen das einstige „Reich der Mitte“ gerichtet. Hinzu kommt, daß Präsident Biden – wie auch jüngst Pelosi in Taiwan – betont, die USA würden sich in einem Wettstreit zwischen Demokratien und Autokratien befinden.

In der Taiwanstraße kann das Weiße Haus aus zwei weiteren Gründen nicht nachgeben. Sollte China den Inselstaat erobern, würde ihm die global bedeutende Halbleiterindustrie in die Hände fallen – mit erheblichen Folgen für die Weltwirtschaft. Auch geostrategisch hätte ein solches Szenario negative Folgen für die USA. Die Volksbefreiungsarmee könnte einige ihrer Kriegsschiffe direkt an der Ostküste Taiwans stationieren und so einfacher Macht in den Pazifik projizieren.

Unter Druck steht nun vor allem Xi Jinping. Bleibt es bei den militärischen Manövern und Sanktionen, läßt er Taiwan mit einem blauen Auge davonkommen. Mit einer klaren Folge: Europäer wie Amerikaner werden die zahlreichen Drohungen als bloße Rhetorik wahrnehmen. Fraglich ist daher, wie weit China zu gehen bereit ist, wenn es sich erneut provoziert fühlt. In Ostasien könnte dann sehr schnell ein heftiger Sturm aufziehen.






Martin Wagener ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Zur Lage in der Taiwanstraße nimmt er auch auf seinen Kanälen Stellung:

 Twitter: @martin_wagener

 Youtube: „Prof. Dr. Martin Wagener – der Podcast“

Fotos: Ein Soldat der kommunistischen Volksbefreiungsarmee beobachtet durch ein Fernglas die Marinemanöver seiner Kameraden in den Gewässern um die Insel Taiwan (5. August): Peking antwortet mit großangelegten Manövern und Raketenstarts auf den Besuch des höchstrangigen US-Vertreters seit 25 Jahren in Taiwan; Abschuß einer chinesischen Rakete am 4. August 2022, die Taiwan überflog: China und die USA haben bislang keine Krise eskalieren lassen