© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

An der Belastungsgrenze
Deutliche Zunahme der illegalen Migration übers Mittelmeer: Brüssel verspricht Millionenhilfe / Sea Watch & Co. klagen an
Jörg Sobolewski

Migrationspolitik zu einem „normalen Politikbereich machen“, das war das Ziel der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Seit 2019 ist die Schwedin unter anderem für die Koordinierung einer gemeinsamen Migrationspolitik des Staatenverbunds verantwortlich. Migration ist für Johansson ein Imperativ für die aus ihrer Sicht „überalterten“ europäischen Gesellschaften.  Doch auch sie mußte nach einem Jahr Amtszeit feststellen, daß „nicht jeder in der EU bleiben“ könne. Wer aber nicht bleiben dürfe, müsse gehen. Heute, drei Jahre nach ihrer Amtsübernahme sieht sich die  Ex-Physiklehrerin fast am Ziel. Migrationspolitik sei nun „weniger toxisch“ und mehr vernünftig, wie sie im Interview mit dem Politikmagazin Politico zu Protokoll gab. 

Die Realität sieht jedoch anders aus, unverändert zieht sich durch die EU ein Graben zwischen eher migrationskritischen Ländern und denen, die eine eher bundesdeutsche Linie der offenen Grenzen befürworten. Angeheizt wird die Stimmung besonders von Nichtregierungsorganisationen wie „Sea Watch“, die zuletzt in einer gemeinsamen Pressemitteilung zusammen mit SOS Mediterranée und Médecins sans Frontières vor „weiteren Todesfällen im Mittelmeer“ warnten und die Einrichtung einer staatlichen Seenotrettung forderten.

Der „Rückzug europäischer Einsatzkräfte aus der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer sowie die Verzögerungen bei der Zuweisung sicherer Häfen für die Ausschiffung Geretteter“ hätten das Such- und Rettungssystem und damit die Fähigkeit, Leben zu retten, ausgehöhlt. „Obwohl wir uns systematisch um eine Koordinierung unserer Einsätze bemühen, so wie das Seerecht es vorsieht, reagieren die libyschen Behörden so gut wie nie. Damit verletzen sie ihre gesetzliche Verpflichtung zur Koordinierung von Rettungsmaßnahmen. In den Fällen, in denen sie selbst eingreifen und Boote in Seenot abfangen, zwingen die libyschen Seebehörden Überlebende systematisch völkerrechtswidrig nach Libyen zurück, das nach Ansicht der Vereinten Nationen nicht als sicherer Ort gelten kann“, so die Sicht von Sea Watch & Co. 

 Die italienische Regierung unter Mario Draghi hatte mit der Linie von Lega-Chef Matteo Salvini gebrochen und die heimischen Häfen wieder für die Schiffe der privaten Seenotretter geöffnet. Nun könnte sich das Blatt jedoch erneut zuungunsten der Aktivisten wenden. Denn in den Umfragen zur italienischen Parlamentswahl liegen die rechten Fratelli d’Italia (FdI) knapp vor den Sozialdemokraten. Die Parteichefin der FdI, Giorgia Meloni, kündigte für den Fall der Machtübernahme sogar eine „Seeblockade der libyschen Küste“ an, um illegale Einwanderer zu stoppen.

Denn tatsächlich hat die Zahl der sich illegal über das Mittelmeer einschiffenden Personen zuletzt wieder deutlich zugenommen. Anfang August erreichten nach Angaben der EU-Grenzschutzbehörde Frontex über 3.000 Migranten in vier Tagen die italienische Küste. Immerhin 977 Migranten wurden Angaben der Uno zufolge in den letzten Julitagen von Einheiten der libyschen Küstenwache zurück an die afrikanische Küste gebracht.

 Deren Boote operieren zunehmend effizient bei der Seenotrettung, eine Entwicklung, die den privaten Aktivisten von Human Rights Watch sauer aufstößt. Dort macht man auch die Kräfte von Frontex dafür verantwortlich. Deren Drohnen würden statt privater Schiffe lieber die libysche Küstenwache zu den havarierten Schlauchbooten lotsen, wie die Organisation in einem Video bekanntgab. 

Die deutliche Zunahme der illegalen Migration im Mittelmeer zeigt sich besonders auf der italienischen Insel Lampedusa; das dortige Erstaufnahmezentrum gilt als völlig überlastet. Mitte Juli zog die italienische Regierung die Konsequenzen und verlegte die ersten 600 Migranten in Lager auf dem italienischen Festland. Über 30.000 Neuankömmlinge verzeichneten die italienischen Behörden in diesem Jahr. Eine deutliche Zunahme der illegalen Migration gegenüber demselben Zeitraum in den Vorjahren und eine zunehmende finanzielle Belastung. 

Um „besonders unter Druck stehende EU-Staaten bei der Aufnahme von Geflüchteten“ zu unterstützen sowie deren Asyl- und Rückführungssysteme zu stärken, will die EU-Kommission Projekte in Zypern, Spanien, Griechenland, Italien und Polen mit insgesamt 171 Millionen Euro fördern. In Zypern werde eine Unterkunft gebaut, in Spanien fließe das Geld nach Ceuta und auf die Kanarischen Inseln, wo die Kapazitäten zur Aufnahme von Geflüchteten überlastet seien.

Foto: Ein Schiff der italienischen Küstenwache bringt etwa 110 Menschen in einem überfüllten Holzboot auf: Über 30.000 Neuankömmlinge in Italien in diesem Jahr