© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Triage auf dem Bau
Materialknappheit: Unternehmen stehen vor Stornowelle
Christian Schreiber

Die Ankündigungen war vollmundig: „Ich möchte, daß wir es schaffen, in Deutschland gutes, bezahlbares und klimagerechtes Wohnen in einem lebenswerten Umfeld sicherzustellen“, sagte Bundesbauministerin Klara Geywitz zu ihrem Amtsantritt. „Ich möchte zudem, daß wir ausreichend Wohnungen bereitstellen. Wohnungen, die den demografischen wie digitalen Erfordernissen entsprechen. Aber auch Wohnungen, die den ökologischen Standards gerecht werden.“ Und die SPD-Politikerin verwies auf die im Koalitionsvertrag vereinbarten 400.000 neuen Wohnungen jährlich.

Doch das ist Wunschdenken. Überall stöhnt die Baubranche: Lieferengpässe, explodierende Energiepreise, Sanktionen und bürokratische Hemmnisse machen das Leben schwer. „Unsere Mitgliedsunternehmen erhalten aktuell nur noch wenige Angebote für Stahlmatten, Träger, Stabstahl und Bleche. Auch Rohre und Aluminiumprodukte sind betroffen. Die Hersteller von Leitplanken für Straßen haben ihre Lieferungen eingestellt“, sagt Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe (ZDB). Plastikschalter für Elektrobetriebe, Kunststoffverblendungen für Dachdecker, Silikonkartuschen für Fliesen und Fenster seien plötzlich Mangelware, sagt Pakleppa und verweist auf Rückmeldungen aus Handwerksbetrieben und Innungen.

Dabei war die Baubranche trotz aller Schwierigkeiten während der Coronakrise ein Sektor, der die Konjunktur am Laufen gehalten hat. Als Restaurants und Einzelhandel geschlossen waren, waren die Auftragsbücher voll. „Ein gravierender Faktor ist seit April das besorgniserregende Problem mit den Baumaterialien“, erklärt Peter Hübner, Präsident des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie. Auch die eklatanten Preissteigerungen bei bestimmten Materialien bereiten vielen Unternehmern Sorgen. Die Branche klagt einhellig über einen Mangel an Stahl, Holz und Kupfer: In einer Umfrage des Münchener Ifo-Instituts gaben im Mai 43,9 Prozent der Unternehmen an, sie hätten Probleme, Baustoffe zu beschaffen. Im April waren es noch 23,9 und im März nur 5,6 Prozent der Befragten. „Das Thema verschärft sich wöchentlich“, erklärte Thomas Reimann, Vorstandsvorsitzender beim Hoch- und Industriebaukonzern Alea gegenüber dem Handelsblatt. „Wir sind froh, wenn wir überhaupt noch Material bekommen. Der Preis gerät schon fast in den Hintergrund.“

Laut Ifo hat die Materialknappheit auf deutschen Baustellen ihren Höchststand seit 1991 erreicht. Mit dem Ukraine-Krieg haben laut sich ifo-Forscher Felix Leiss die Lieferprobleme bei Baustoffen zusätzlich verschärft. Besonders knapp sei derzeit Baustahl, der bislang oft aus Rußland oder der Ukraine importiert wurde. „Mancherorts klagten die Betriebe auch über einen Mangel an Ziegelsteinen. Dämmstoffe waren bereits vor Kriegsbeginn vielerorts knapp, aber auch hier hat sich die Situation weiter verschlechtert“, so Leiss. Noch seien die Auftragsbücher der Branche gut gefüllt, aber die ersten Unternehmen beginnen, sich zurückzuziehen. Wegen der steigenden Baupreise und der höheren Finanzierungszinsen werden immer mehr Bauaufträge storniert. Das betrifft laut Ifo besonders den Wohnungsbau, wo bereits die ersten Projekte unrentabel würden. Das große Ziel der Bauministerin dürfte damit noch utopischer werden.

Stahl, Kupfer, Bitumen oder Kunststoffteile fehlen

Doch es geht nicht nur um den Wohnungsbau. Auch der Straßenbau ist betroffen. Es sei ein deutlicher Anstieg der Preise bei dem vor allem notwendigen Bitumen sowie bei Stahl erkennbar, heißt es vom ZDB. Bauindustrie und Asphalt-Hersteller warnten früh davor, das Bitumen knapp werden könnte und bald nicht mehr für alle Bauprojekte ausreichend zur Verfügung steht. Ein Drittel des in Deutschland für den Straßenbau benötigten Bitumens produzierte die zum russischen Staatskonzern Rosneft gehörende Raffinerie in Schwedt in Brandenburg. Durch die Rußland-Sanktionen ist die Produktion zum Erliegen gekommen.

Kommunen legen bereits Baupläne auf Eis, auch weil die bereit gestellten Budgets nicht mehr ausreichen. Eine Stornowelle könnte bevorstehen. „Der Trend ist erkennbar. Eine Welle gestoppter Bauinvestitionen kommt unweigerlich auf uns zu“, warnt Bauindustriepräsident Hübner. Dabei werde sogar der hohe Auftragsbestand zum Problem: „Der fällt uns jetzt auf die Füße. Wir haben Verträge mit fest vereinbarten Preisen aus der Vergangenheit. Aber zu diesen Preisen wollen Spediteure nicht mehr fahren und Stahlhändler nicht mehr liefern. Fährt der Spediteur doch, hält er das nicht lange durch – daran haben auch die Bauunternehmen als Auftraggeber kein Interesse. Also wird nachverhandelt, und jeder versucht, die Mehrkosten an die Kunden weiterzugeben.“

In einem Schreiben an die Bundesregierung hat der Verband vor einer „Triage im Bausektor“ gewarnt. Gewisse Projekte müßten priorisiert werden, das betreffe die Infrastruktur genauso wie den privaten Wohnungsbau. „Wenn zu wenig Baumaterial vorhanden ist, muß man schauen, was mit dem vorhandenen Material noch gebaut werden kann. (...) Es ist eine paradoxe Situation: Trotz des hohen Bau- und Sanierungsbedarfs muß die Baubranche womöglich bald Leute in die Kurzarbeit schicken“, sagt Hübner und erhält Unterstützung vom Zentralverband des Deutschen Handwerks. „Unternehmen müssen bei vollen Auftragsbüchern Kurzarbeit anmelden, weil sie kein Material haben“, fürchtet Präsident Hans Peter Wollseifer. Das sei fatal. Dazu trägt auch bei, daß die Regierungen nahezu aller westlichen Industrienationen große Konjunkturprogramme aufgelegt haben, um die Wirtschaft nach der Corona-Krise wieder anzukurbeln. Der europäische Bauverband FIEC sorgt sicht in einem Brief an die EU-Kommission, daß die Maßnahmen durch die Preissteigerungen an Kraft verlieren könnten. Rosige Aussichten sehen wirklich anders aus.