© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

„Der Stadt die Seele ausgesaugt“
Die ukrainische Metropole Cherson unter russischer Okkupation: Ein Alteingesessener schildert die Veränderungen dieses Kriegssommers
Florian Werner

Entferntes Donnern von Geschützen, Warenknappheit und Widerstand – seitdem die russischen Truppen Anfang März die Großstadt Cherson im Süden der Ukraine erobert haben, steht die Welt der Einheimischen kopf. Zunächst protestierten sie lautstark und mutig gegen die Besatzer. Später lösten diese mit Blend- und Gasgranaten die Proteste auf. Der Englischlehrer und Übersetzer Sergej (voller Name ist der Redaktion bekannt) stammt aus der Stadt am Dnjepr und hat fast sein gesamtes Leben in Cherson verbracht. Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT schildert er aktuelle Eindrücke aus dem Leben der Menschen unter Bedingungen von Krieg und russischer Besatzung. Wir erreichen Sergej telefonisch und schriftlich über Messengerdienste.

„Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon fast ein halbes Jahr. Cherson fühlt sich an, als hätte man die Stadt in alle Einzelteile zerlegt und ihr die Seele ausgesaugt“, beschreibt der 53jährige das neue Lebensgefühl. „Cherson ist keine besonders alte Stadt. Sie wurde 1778 von Katharina der Großen gegründet. Ihr Liebhaber Prinz Potemkin liegt hier begraben – in der Katharinen-Kathedrale, der ältesten orthodoxen Kirche in Cherson. Die Legende besagt, daß der Prinz vor seiner Beerdigung enthauptet wurde.“

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Deutsche in der Metropole. „Wir haben zum Beispiel eine Lutherstraße in Cherson.“ Diese vulitzja ljuteranska, wie sie auf ukrainisch heißt, liegt im Stadtzentrum unweit jener Kathedrale, nur durch ein großes Sportstadion getrennt und mit vielen schönen Altbauten besetzt. In den 30er Jahren wurde sie nach Sergej Kirow umbenannt, einem Gefolgsmann Stalins. 2016, nach dem Maidan, erhielt sie ihren ursprünglichen Namen zurück. Die evangelische Stadtkirche, wegen der die Straße nach Luther benannt wurde, rissen die Kommunisten nach Juni 1941 ab und deportierten alle Deutschen nach Kasachstan, erzählt Sergej.

Stundenlanges Anstehen in der Hitze für ein bißchen Bargeld

„Das Schlimmste am Krieg ist, daß man sich mit der Zeit an ihn gewöhnt. So schrecklich er zunächst erscheint, so normal ist er am Ende. Man gewöhnt sich an all die Sirenen und Explosionen. Es ist Krieg – Maschinengewehre rattern, Granaten schlagen krachend ein, und Raketen heulen durch die Luft. Und doch: Man hat gelernt, die Flugbahn der Geschosse am Geräusch abzuschätzen.

Die meisten, die jetzt in der Stadt zurückgeblieben sind, haben ihr 50. Lebensjahr überschritten. Man sieht nur noch wenige Kinder auf den Straßen. Die Spielplätze sind wie leergefegt“, berichtet Sergej, der selbst keine eigenen Kinder hat.

Bargeld ist Mangelware geworden und schwierig zu bekommen. Die meisten Geldautomaten sind mittlerweile außer Betrieb, weil von den Russen gesperrt. Vor den wenigen noch funktionierenden stehen die Leute in langen Reihen an, um ein paar Scheine abzuheben. „Dabei ist es gerade sehr heiß in Cherson – über 35 Grad. Trotzdem harren die Menschen in den Warteschlangen in praller Sonne aus. Manchmal viele Stunden lang.“

Die einzig verbliebene ukrainische Bank in der Stadt zahlt die Landeswährung Hrywnja nur noch im Gegenwert von 100 Dollar aus. „So seltsam das vielleicht auch klingen mag – man gewöhnt sich auch an diesen Zustand. Irgendwann erscheinen einem diese Warteschlangen in der sengenden Hitze als etwas ganz Normales. Das ist wirklich gruselig, und es macht einen traurig, wenn man so daran denkt.“

Die russischen Okkupanten haben mittlerweile sowohl das ukrainische Mobilfunknetz als auch das Internet vor Ort blockiert und eigene Funkmasten aufgestellt. Der Empfang sei seitdem „einfach fürchterlich“. „Um sein Mobilfunk-Guthaben aufzuladen, muß man in Rubeln bezahlen. Überhaupt versuchen die Russen, wo es nur geht, den Rubel als neue Währung einzuführen. Aber die Leute weigern sich oft, damit zu bezahlen“, so die Beobachtung. Als Druckmittel sperrten die Besatzungsbehörden fast alle Geldautomaten in der Stadt. Bald darauf eröffnete die erste russische Bank eine Filiale. „Die Rentner sind bisher aber die einzigen, die wirklich in Rubel bezahlen, und das auch nur, weil sie in dieser Währung ihre Rente bekommen und also gar keine andere Wahl haben.“

Geldsorgen sind im Moment aber nicht das einzige Problem. „Die Russen haben auch die ukrainischen Supermärkte in der Stadt verboten und durch welche aus Rußland ersetzt. Dort können die Leute dann tatsächlich mit Rubeln zahlen. Dafür ist aber die Qualität der Waren – und vor allem die der Lebensmittel – einfach katastrophal. Deswegen gehen die meisten Stadtbewohner lieber zu den Bauernmärkten im Umland, um dort das Allernötigste einzukaufen. Die Bauern wiederum weigern sich, die russische Währung anzunehmen. Und so haben wir derzeit zwei Zahlungsmittel im Umlauf – Hrywnja und Rubel.“

Die Besatzungsbehörden planen, in der Stadt eine Volksabstimmung durchführen zu lassen, um Cherson und Umland möglichst bald zu annektieren. So wie im ebenfalls besetzten Nachbargebiet Saporischschja, dessen von den Russen eingesetzter Chef am Dienstag befahl, ein „Referendum“ über die Vereinigung dieser Region mit Rußland vorbereiten zu lassen.

Schon am 12. März, eine Woche nach dem russischen Einmarsch, kam deshalb der Regionalrat von Cherson zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, weil er befürchtete, daß der Kreml ein Referendum über die Errichtung einer „Volksrepublik“ abhalten würde.

„Die Russen träumen davon, in der Stadt genauso eine ‘Volksrepublik’ auszurufen wie im Donezbecken. Aber 90 Prozent der Stadtbewohner stemmen sich gegen dieses Vorhaben“, beschreibt Sergej die Stimmung, und: „Die meisten werden einfach nicht am Referendum teilnehmen, wenn es stattfindet. Letztendlich werden die Raschisten (eine ukrainische Neuschöpfung aus „Faschisten“ und „Russen“, Anm. d. Red.) wahrscheinlich einfach ihre eigenen Leute in die Stadt karren. Eine Farce! Ich versuche, meine Freunde zu überreden, im Fall der Fälle trotzdem an der Abstimmung teilzunehmen, um wenigstens ein kleines Zeichen zu setzen.“

Bürgermeister der Stadt ist Ihor Kolychajew. Der 51jährige ist Kind der Dnjeprstadt. Sergej hält große Stücke auf ihn: „Er ist zwar ethnischer Russe, aber er brennt für die Ukraine und Cherson! Für uns ist er der Mann der Stunde. Er verweigert jegliche Zusammenarbeit mit den russischen Streitkräften und versucht dabei trotzdem, ausgleichend zwischen Armee und Stadtbevölkerung zu treten.“

Eine Volksabstimmung unter russischen Bajonetten

Das Referendum soll, ist Sergej überzeugt, sicherstellen, daß es in Zukunft eine Landbrücke von der Krim in den Donbass gibt. Als die Krim vor März 2014 noch nicht besetzt war, wurden Strom, Trinkwasser und Erdgas jeweils von Cherson aus bereitgestellt. Nach der Annexion durch russische Truppen hat Kiew die Grundversorgung der Halbinsel jedoch entweder eingeschränkt oder ganz eingestellt.

Den Nachschub von Rußland aus zu organisieren hat sich seitdem als ziemlich schwierig herausgestellt. „Die Krim steht deshalb gefährlich nah am Rande von Volksunruhen“, unkt unser Informant. Vor allem das für die Landwirtschaft so wichtige Wasser werde dort langsam knapp. „Die Marionettenregierung einer ‘Volksrepublik Cherson’ soll nun erreichen, daß die Krim wieder ausreichend versorgt wird.“

Die Bürger in Cherson jedoch wollen weder eine eigene Republik ausrufen noch ein Referendum abhalten: „Das ist der Grund dafür, daß nach der Eroberung der Stadt so viele Leute auf die Straße gegangen sind. Und es ist auch der Grund dafür, daß die Besatzer das Stimmvolk für ihr Referendum aus Rußland einfliegen lassen müssen. Genau wie beim ‘Referendum’ auf der Krim.“

Die ungesetzlichen und politisch motivierten Einbürgerungsverfahren haben die Besatzungsbehörden mittlerweile vereinfacht. Bei Besorgungs- und Spaziergängen registriert Sergej, daß nur wenige anstehen, um sich einen Paß der Russischen Föderation zu besorgen. „Die meisten Leute in Cherson lassen sich damit Zeit. Die ukrainischen Ausweise werden immer noch anerkannt, es eilt also nicht. Unsere Erfahrungen mit der Währungsumstellung lehrt uns aber dennoch, daß die Russen unsere ukrainischen Dokumente jederzeit für ungültig erklären können.“ So sei es damals auf der Krim gewesen.

Derzeit lebten nur noch wenige Kinder in Cherson. Die meisten Lehrer seien geflohen. Und von denen, die geblieben sind, weigere sich ein Großteil, mit den Russen zusammenzuarbeiten, weiß Sergej aus seiner näheren Umgebung. „Ein paar versuchen, ihre Schüler heimlich weiter über das Internet zu unterrichten. Denn inzwischen versuchen die Besatzer, auch an den Schulen die Kontrolle zu übernehmen. Zu diesem Zwecke setzen sie die restlichen Lehrer stark unter Druck.“ Viele Eltern behielten ihre Kinder deshalb inzwischen zu Hause und versuchten es mit Fernunterricht.

Dabei bereiten unzuverlässige Internetverbindungen große Probleme. Wenn die Verbindung nämlich wieder einmal schlecht ist, muß der Unterricht ausfallen. Sergej hat sich auf die neue Situation eingestellt: „Ich selbst unterrichte meine Schüler heimlich bei mir zu Hause.“ Um ihre versäumten Schulstunden nachzuholen, „klopfen sie einfach bei mir an“. Das werde aber sehr bald nicht mehr möglich sein, denn: „Die Russen werden immer argwöhnischer.“

Den immer näher kommenden Schlachtenlärm deutet Sergej so, daß die ukrainischen Truppen nicht mehr besonders weit von der Stadt entfernt sind. „Viele Leute in der Stadt meinen, daß Cherson spätestens im August wieder befreit ist. Bis dahin kann natürlich noch eine ganze Menge passieren. Aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich eigentlich nicht daran, daß es so schnell geht. Bis zum Januar werden wir wohl noch unter russischer Besatzung leben müssen. Um uns selbst ein Bild zu machen, können wir uns derzeit eigentlich nur am Verhalten der russischen Soldaten orientieren. Und die wirken noch viel zu selbstbewußt, als daß ich mir die baldige Rückeroberung der Stadt durch unsere vorstellen kann.“

Die Gegenwart: schrecklich, die Zukunft: unsicher. Wie wird es weitergehen? „Am Anfang gab es in Cherson, wie ich schon sagte, wirklich viele Proteste gegen die russische Besatzung. Aber die Russen haben inzwischen viele der Demonstranten verurteilt oder einfach direkt aus der Stadt geworfen. Also ist es hier mittlerweile ziemlich still geworden. Trotzdem hören die Leute nicht damit auf, sich gegen die Besatzung zu wehren. Es ist ein ganz leiser und unmerklicher Widerstand.“

Und er erzählt: „Vor dem Krieg beispielsweise war Cherson eine russischsprachige Stadt – aber jetzt reden hier die meisten auf einmal ukrainisch. Die Menschen eignen sich die Sprache Stück für Stück an und tragen sie auf die Straße. Blau-gelbe Schleifen hängen hie und da in den Bäumen, und auch an den Zäunen der Kasernen mit den Russen. Und die wenigen Straßenmusiker, die es in Cherson gibt, singen alle nur noch ukrainische Lieder.“

Kurz nach der Einnahme Chersons durch Rußland sprachen wir erstmals mit Lehrer Sergej:  jf.de/politik/ausland/2022/englischlehrer-in-cherson

Foto: Dieser improvisierte Verkaufsstand in der Innenstadt nimmt Devisen an, Ende Juli – der Zuspruch hält sich in Grenzen: „Die Russen versuchen, wo es nur geht, den Rubel einzuführen“