© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Auf dem Komposthaufen
Schuldkult: Von der Documenta, der Globalisierung und der verletzten Eigenliebe
Thorsten Hinz

Die Documenta 15 hat den globalisierten und postkolonialen Blick in der Kunst bestellt, und sie hat ihn bekommen. Sie hat den Goetheschen Zauberbesen namens Vielfalt gerufen, und der hat das Haus unter Wasser gesetzt. Das indonesische Kollektivs Taring Padi zeigte auf dem Banner „People’s Justice“ einen spitzbezahnten Zigarrenraucher – ein raffgieriger Geschäftsmann offenbar – mit Schläfenlocken und SS-Rune sowie einen Mossad-Mann mit Schweinerüssel. In anderen Werken sind israelische Soldaten als Quälgeister palästinensischer Kinder dargestellt, was geeignet ist, einschlägige historische Assoziationen zu wecken. Um den Besen wieder in die Ecke zu bekommen, üben die überforderten Zauberlehrlinge sich in weinerlicher Selbstkritik und geloben für die Zukunft mehr Wachsamkeit.

Bei ruhiger Betrachtung verrät das als antisemitisch und israelfeindlich kritisierte Bildprogramm zunächst einmal den globalen Erfolg der westlichen Kulturindustrie. Dank Hollywood sind die Nazi-Deutschen nicht nur als Verbrecher, sondern als Inbegriff des Bösen schlechthin festgelegt, so wie die Juden als die Opfer schlechthin gelten. Das Hakenkreuz, die SS-Rune, der Wehrmacht-Helm, die bekannten Fotos aus dem Ghetto und den befreiten KZs sind zu Metaphern geworden, die weltweit ohne Kommentar und Fußnote verstanden werden.

Nicht gelungen ist es hingegen, die Heiligung des Holocaust global durchzusetzen. Sie ist ein auf den Westen beschränktes Projekt geblieben. Auf dieser nächsthöheren, sakralen Stufe ist das NS-Böse nicht nur die extreme Massierung menschlicher Gemeinheit, es ist ein Böses im absoluten, metaphysischen Sinne. Dazu spiegelbildlich sind die ermordeten Juden das geheiligte Opfer. In Deutschland ist daraus eine ganze Zivilreligion mit Ritualen, Liturgien, Ikonographien entstanden. Auch das Gebot der Unvergleichbarkeit gehört dazu.

Daraus ergeben sich unterschiedliche Wahrnehmungen. Für Künstler aus Asien, Afrika und Lateinamerika hat die Nazi- und Holocaust-Ikonographie einen Gebrauchs-, aber keinen Sakralwert. Sie nutzen sie als Material, um ihre Botschaft und Aussageabsicht universell verständlich zu machen. Das kann durch ironisierte Zitate oder direkte Umkehrungen geschehen. Die maximale Provokation und unter dem Aspekt der Aufmerksamkeitsökonomie äußerst effektiv ist der Rückgriff auf alte antisemitische Stereotype.

In arabischen Ländern gilt Israel als die Inkarnation einer bösen Kraft. Der Kurzschluß mit den Nationalsozialisten ist in der Sache natürlich irre; arabischen Künstlern aber bietet er sich an, um ihre Aussage etwa zum Palästina-Konflikt einem großen Publikum künstlerisch zu verdeutlichen. Das Plakat „People’s Justice“ aus Indonesien erinnert an die Opfer der Suharto-Diktatur. General Haji Mohamed Suharto ließ 1965/66 Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million politische Gegner massakrieren. Er genoß die Unterstützung westlicher Länder und Geheimdienste, die auf dem Bild zitiert werden – darunter eben auch der mit dem Davidstern signierte Mossad. Dieser historische Kontext erklärt auch die Motive, die man als Anspielungen auf den Dollar-Imperialismus lesen kann.

Eine Diskussion, um sinnvoll zu sein, müßte die geschichtlichen Fakten und ihre Aus- und Nachwirkungen berücksichtigen. Die Documenta ist dazu nicht in der Lage, sie hat sich erschöpft. Die Formensprache der globalen Kunst ist zwar weitgehend westlich, ihr Inhalt aber entgleitet unaufhaltsam der westlichen Kontrolle und Deutungshoheit. Das ist symptomatisch für die Verschiebung der politischen, wirtschaftlichen, demographischen Gewichte in der globalisierten Welt. Die Deutschen, die meinten, aus ihrer Geschichte endlich die richtigen Lehren gezogen zu haben und damit als Missionare hausieren gingen, sind davon ganz besonders konsterniert.

Von Anfang an transportierte die Documenta, die erstmals 1955 im kriegszerstörten und notdürftig wiederhergestellten Museum Fridericianum in Kassel eröffnet wurde, über die Kunst eine politische Agenda. Im Ausstellungskatalog war damals zu lesen, die roh gekalkten Ziegelmauern der Ausstellungsräume stünden „für ein neues Werden aus dem Zerstörten: Kein Wiederaufbau, sondern ein Neubau unter Verzicht auf das restaurative Element“.

Aus welchem Geist der Neubau erfolgte, beschrieb Hans-Jürgen Syberberg unter dem Stichwort „Die Documenta als Einflugschneise“ so: „Deutschland nach 1945 als Landeplatz der Moderne Europas, im Visier einer Strategie des intellektuellen Imperialismus, wenn man die CIA-Einflüsse beachtet (…). Was bisher als Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges dargestellt wurde, ist auch und vor allem eine Strategie zur Okkupation der Meinungen und Interpretationen des alten Kontinents gewesen, wobei Deutschland ein durch die Niederlage offenes Kampffeld war.“

Im Ergebnis ist der Furor teutonicus, der einst die Welt im Guten wie im Bösen beeindruckte, auf die Mentalität einer Kartoffel (mehlig kochend) herabgedimmt, die entsprechend verspottet wird. An ihr ist nichts Schöpferisches mehr, ihr Verständnis von Kunst ist zu dem einer fortgesetzten Schuldliturgie geschrumpft. Kunst aber soll Grenzen überschreiten, Gewohntes in Frage und in neue Kontexte stellen, neue Sichtweisen evozieren, die Imagination des Rezipienten befeuern. Das übernehmen nun andere, was wiederum die bundesdeutsche Eigenliebe verletzt. Man glaubte sich vom Weltgeist geküßt, von ihm zum globalen Vorbild erhoben und wird nun mit der Aussicht konfrontiert, auf dem Komposthaufen zu landen. Die Globalisierung ist nun mal ein viel härteres Geschäft, als unsere ach so weltoffenen Geistes-provinzler sich das vorgestellt hatten.

Die Kulturstaatssekretärin Claudia Roth, die nun als Schutzpatronin des Antisemitismus gescholten wird, verdient in dem Zusammenhang Nachsicht. Natürlich ist sie zu minderbemittelt, um zu begreifen, wie ihr geschieht und worum es überhaupt geht. Aber auch Schlauere hätten sich in den Fallstricken der Postkolonial-, Holocaust-, Global- und Schuldsemantik unweigerlich verheddert. 

Hier gibt es nichts mehr zu debattieren, zu diskutieren oder zu entwirren. Verlorene Liebesmüh, verschwendete Lebenszeit. Man kann den ganzen Irrsinn nur noch hinter sich lassen. Indem man ihn verwirft.

Foto: Auf der Documenta in Kassel abgehängtes Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischen Darstellungen