© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Kampf gegen Windmühlen?
Plädoyer für unverzichtbaren Naturschutz: Ein englischer Biologe will Insekten vor dem Aussterben bewahren
Regina Bärthel

Der britische Entomologe Dave Goulson befindet sich auf einer Mission: Er will den Respekt vor Insekten in der breiten Öffentlichkeit fördern. 2014 wurde er mit „Und sie fliegt doch: Eine kurze Geschichte der Hummel“ bekannt. Es folgten weitere populärwissenschaftliche Sachbücher über Insekten und nachhaltiges Gärtnern. Nun widmet er sich in seinem aktuellen Buch „Stumme Erde“ den Gründen für das seit Jahrzehnten zu beobachtende Insektensterben. Doch Missionare erliegen häufig der Gefahr, ihren „wahren Glauben“ als sakrosankt zu sehen – und die eigenen blinden Flecken nicht erkennen zu können. Der blinde Fleck Goulsons liegt offenbar bei den Erneuerbaren Energien, insbesondere der Windkraft.

„Stumme Erde“ beginnt mit Fakten aus der Urzeit der Erde: Insekten waren vor 380 Millionen Jahren die ersten flugfähigen Wesen und entwickelten sich seither zu einer Vielzahl von Arten zu Lande und in der Luft; noch heute werden bislang unbekannte Arten entdeckt. In kurzen Vignetten stellt Goulson besonders kuriose Krabbler vor; leider fehlen Bilder. 

Innerhalb der jeweiligen Ökosysteme weltweit sind Insekten für zahlreiche Aufgaben zuständig: 87 Prozent aller Pflanzenarten sind auf ihre Bestäubung angewiesen, was nicht nur Bienen und Hummeln unverzichtbar für die Produktion von Nahrungsmitteln wie Obst und zahlreiche Gemüsesorten macht. Wespen dienen der Schädlingsbekämpfung, während Mistkäfer und Schmeißfliegen die Zersetzung organischen Materials wie Laub, Kot und Kadaver erledigen. Nicht zuletzt bilden Insekten die Basis einer langen und fein abgestimmten Nahrungskette, die nun zu zerreißen droht. 

Mit dem Titel „Stumme Erde“ bezieht sich Goulson sehr eindeutig auf „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson. Die US-amerikanische Biologin machte in ihrem 1963 erschienenen Buch das in den USA flächendeckend zur Schädlingsbekämpfung eingesetzte Pflanzengift DDT für das Schwinden der Vögel verantwortlich, da diese durch das Insektensterben ihre Nahrungsgrundlage verloren. Damals wurde Carson als Animistin und Fanatikerin verunglimpft; heute gehört ihr Buch zu den Standardwerken der Ökobewegung und führte zum Verbot von DDT in nahezu allen Ländern weltweit.

Diverse Gründe für den Rückgang von Insektenpopulationen

Dave Goulson nennt weitere Gründe für das Insektensterben: Der globale Handel verbreitet nicht nur ortsfremde Insekten, sondern auch Viren und Parasiten wie die Bienen befallende Varroa-Milbe. Vor allem zerstöre die wachsende Bevölkerungsdichte und die menschliche Infrastruktur mit ihren Städten, Siedlungen und Straßen den Lebensraum der Insekten: Lichtsmog und elektromagnetische Felder stören das Orientierungssystem zahlreicher Fluginsekten, die entweder am Licht verenden oder nicht mehr zum Stock zurückfinden. Neben dem Klimawandel identifiziert auch Goulson – wie einst Carson – die industrielle Agrarwirtschaft als Hauptfeind der Insekten und verweist auf ausgelaugte Böden, die „Grünen Wüsten“ der Monokulturen sowie die Agrochemie. Synthetische Düngemittel, so Goulson, verbreiten Stickoxide, Herbizide wie Glyphosat vernichten „Unkraut“, zu dem auch Wildblumen gehören. 

Insektizide, insbesondere Neonicotinoide, sind in der EU zwar seit 2013 verboten; dennoch hat sich das Insektensterben offenkundig nicht verlangsamt. Die Ergebnisse der Krefelder Studie, veröffentlicht 2017, belegen zwischen 1989 und 2016 einen Rückgang der Biomasse von Insekten um 75 Prozent – und das in intakten Naturschutzgebieten. Die Studie basiert auf den Daten des ehrenamtlich arbeitenden Entomologischen Vereins Krefeld, die Goulson mit ausgewertet hatte. Zwar wurde sie von verschiedenen Seiten als wenig belastbar kritisiert, gibt aber dennoch einen grundsätzlichen Beleg für den Rückgang von Insektenpopulationen, den man auch in der Realität wahrnehmen kann. Breit angelegte wissenschaftliche Studien zur Sammlung belastbarer Daten sind allerdings noch immer rar gesät, was in Deutschland auch an der fehlenden Bereitstellung finanzieller Mittel seit den 1990er Jahren liegt.

Windkraftanlagen schädigen die Natur

Doch 2019 veröffentlichte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrtforschung (DLR) die Studie „Wechselwirkungen von Fluginsekten und Windparks“. Jene Studie behandelt zwar hauptsächlich die Effizienz der Anlagen, da durch Insektenkadaver „verschmutzte“ Rotorblätter bis zu 50 Prozent ihrer Effizienz einbüßen, kommt aber nebenbei zu einem interessanten Ergebnis: Für einen erheblichen Teil der Dezimierung der Population von Fluginsekten seit 1990 ist der massive Ausbau von Windparks verantwortlich. Denn anders als angenommen bewegen sich Fluginsekten durchaus im Bereich von Windrotoren: Kurz vor der Eiablage suchen sie in großen Schwärmen hohe und schnelle Luftströmungen auf, um sich zu fernen Brutplätzen tragen zu lassen. Diese Flugwege jedoch werden seit drei Jahrzehnten zunehmend von Windkraftanlagen verstellt, deren Rotorblätter die Luft mit Spitzengeschwindigkeiten von mehreren hundert Stundenkilometern durchschneiden und dabei während der warmen Jahreszeit mindestens fünf bis sechs Milliarden Insekten pro Tag beziehungsweise 1.200 Tonnen pro Jahr vernichten – und zwar vor der Eiablage, also der Möglichkeit zur Fortpflanzung. 

Daß diese Studie von Goulson (die Originalausgabe von „Silent Earth“ erschien 2021) nicht erwähnt wird, ist zumindest befremdlich. Allerdings bezichtigt auch das deutsche Bundesamt für Naturschutz weiterhin ausschließlich die altbekannten Ursachen – von Agrochemie bis Klimawandel – als verantwortlich für das Insektensterben in Deutschland; von einer Gefährdung durch Windkraftanlagen ist auch hier nicht die Rede. Immerhin war und ist von Regierungsseite ein exorbitanter Ausbau der Windkraft geplant, obgleich sich inzwischen die Erkenntnisse über deren Ineffizienz sowie ihre Schädigung von Natur (Bodenverdichtung, Töten von Raubvögeln, Fledermäusen und Insekten) und Klima (negative Beeinflussung der Luftströmungen und der Verteilung von Feuchtigkeit) häufen. Längst wird auch vor CO2-bindenden Wäldern nicht mehr haltgemacht; Naturschutzgebiete sind zwar (noch) geschützt, doch halten Insekten die Grenzen des ihnen zugestandenen Lebensraumes nun mal nicht zwingend ein. Der nächste Windpark steht gleich nebenan – prinzipiell deckt sich Klimaschutz immer seltener mit Artenschutz.

Doch zurück zu „Stumme Erde“. Britische Sachbücher zeichnen sich meist durch eine publikumsfreundliche Sprache aus, bei Goulson allerdings gerät sie bisweilen zu einer zu persönlichen Erzählhaltung, die eine professionelle Distanz vermissen läßt. Zuzustimmen ist Goulson, wenn er die Öffentlichkeit für die Belange der Insekten sensibilisieren will. Seine „Bewußtseinsbildung“ beginnt in der Grundschule, wo Natur praxisnah – beispielsweise durch das Anlegen von Gärten – vermittelt werden soll, und geht über chemiefreie, dafür insektenfreundliche Privatgärten bis hin zur ökologischen Landwirtschaft. Viele dieser Vorschläge mögen zwar weit außerhalb der meisten realen Lebenswelten liegen – insbesondere Landwirte stehen schon mit ertragsfördernder Chemie häufig am Rande ihres Existenzminimums – doch Goulson will in einer langen To-do-Liste die Politik, aber auch das eigenverantwortliche, ja bürgerliche „Wir“ aktivieren. Letzteres ist ein konservativer Gedanke, dem unter dem Primat der Ideologiefreiheit nur zuzustimmen ist. Denn wie schrieb Roger Scruton in seinem empfehlenswerten Buch „Grüne Philosophie“ (2013): „Umweltschutz entsteht aus der Oikophilie [Liebe zum Eigenen] der Menschen, nicht aber aus den Aktivitäten jener, die mit Geld, Einfluß und politischer Macht eine von oben diktierte Agenda durchdrücken wollen.“ 

Dave Goulsons Ausführungen zum Insektensterben sind möglicherweise nicht ergebnisoffen, in jedem Fall aber nicht auf dem aktuellen Stand.

Dave Goulson: Stumme Erde. Warum wir die Insekten retten müssen. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Sachbuch, Carl Hanser Verlag, München 2022, gebunden, 368 Seiten 25 Euro