© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Der Rest ist ein Alptraum
Rendezvous mit einem menschenfreundlichen Schreckensmann: Sven Hanuschek legt seine lang erwartete monumentale Biographie des Schriftstellers Arno Schmidt vor
Dirk Glaser

Wenn ich mich recht erinnere“, notierte der Publizist Armin Mohler, „ist Arno Schmidt der einzige zeitgenössische deutsche Autor, der mir von Ernst Jünger ausdrücklich zur Lektüre empfohlen wurde.“ Das war 1949, als Jünger seinem „Secretarius“ Mohler, der fast dreißig Jahre später darauf zu sprechen kommt (Criticón, 43/1977), Schmidts Erstling, den Kurzroman „Leviathan“ mit den Worten in die Hand drückte: „‘Lesen Sie das – bemerkenswert’, was etwas vom Höchsten in seiner Lobskala war.“ 

Und Ernst Jünger, so erfahren wir in der ersten umfassenden, auf dem granitenen Fundament eines gewaltigen Nachlasses errichteten Schmidt-Biographie des Münchner Literaturhistorikers Sven Hanuschek, ist dem „Solipsisten in der Heide“ als „begeisterter Leser“ bis zum Erscheinen von dessen Buch der Bücher, „Zettels Traum“ (1970), treu geblieben. 

Eine Wertschätzung, die allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Der 1914 in Hamburg geborene Schlesier Schmidt absolvierte nach dem Abitur zunächst eine kaufmännische Lehre in einer Textilfabrik und arbeitete fortan als Lagerbuchhalter. Im April 1940 eingezogen, haderte er zeitlebens damit, fünf unersetzlich „beste Jahre“ als Artillerist im Zwangsdienst der Wehrmacht verloren zu haben. Ende 1945 war er aus Krieg und britischer Gefangenschaft, „um das Mindeste zu sagen“, als Anti-Militarist heimgekehrt. Seine Prosa aus den fünfziger Jahren ist durchsetzt mit giftigster Polemik gegen die Gründung der Bundeswehr, Wiederbewaffnung und Nato-Mitgliedschaft der Adenauer-Republik. Der „blutigen Langeweile“ von „In Stahlgewittern“ des Offiziers und „Idioten Jünger“ mochte der ehemalige Unteroffizier Schmidt daher lange nichts abzugewinnen, bis spätere Urteile über dessen Œuvre gelassener ausfielen.

Schmidts bevorzugtes Stilmittel war das phonetische Schreiben

Hanuschek beginnt seinen 1.000seitigen Brocken mit einem Feuerwerk der Superlative. Schmidt, so urteilte eine kleine, quer zum Zeitgeist liegende Kritikerschar, die Tagesgrößen wie Böll-Grass-Lenz-Johnson-Walser-Bachmann-Frisch für drittklassige Zeilenschinder hielt, sei der „permanente Ausnahmefall der Literatur unserer Gegenwart“ (Karl Schumann, 1964), wahlweise „der derzeit größte lebende deutschsprachige Autor“ (Nino Erné, 1972), ja sogar „der größte Autor der zweiten Jahrhunderthälfte“, eine „Erscheinung jener innovatorischen Kraft, nach deren Auftauchen in der Geschichte der Sprach-Kunst dann Epochen benannt werden“ (Hans Wollschläger, 1960).

Was rechtfertigte solche Hymnen? Für den im Fahrwasser Jüngers segelnden Mohler, der damit 1977 den heutigen germanistischen Konsens vorwegnahm, überragte Schmidt die westdeutschen Feuilleton-Helden allesamt, weil er im Gegensatz zu ihnen tat, was des Erzählers Amt ist: „wirkliche Welten vor uns aufzubauen“. Und der Wirklichkeit annähernd adäquat seien diese literarischen Welten, weil sie Realität nicht „flächig“, sondern abgründig und komplex abbilden.

Bevorzugtes Stilmittel ist dabei unter anderem, was sich jüngst für Grundschüler als didaktischer Rohrkrepierer erwiesen hat: das phonetische Schreiben. Virtuos wie von Schmidt gehandhabt, entfesselt es jedoch den enormen Bedeutungsreichtum von Sprache und erschließt die Tiefenschichten menschlicher Existenz. Da die Wirklichkeit eines 24-Stunden-Tages in 1.440 Minuten zerfällt, von denen die im Traum erlebten selten erinnerte Eindrücke hinterlassen und auch die im Wachzustand erfahrenen zumeist augenblicklich wie Seifenblasen platzen, sieht Schmidt die Aufgabe des Schriftstellers darin, dem Leser dieses Chaos der Impressionen schonungslos im Wort zu durchleuchten und bewußtseinserweiternd zu vermitteln. Und es für ihn zugleich in einem aus Sprachbruchstücken komponierten Mosaikbild zu stabilisieren. Schmidts Bewunderer Walter Kempowski hat in den „Tadellöser & Wolf“-Romanen seiner Deutschen Chronik wie im maximal polyphonen kollektiven Tagebuch „Das Echolot“ dieses „Verfahren vielfältiger Bewußtseinsspiegelung“ (Erich Auerbach, 1946), mit dem der moderne Roman der Joyce, Proust und Woolf seit 1900 auf den Sturz aller Garanten „objektiver Sicherheit“ reagierte, bestsellertauglich popularisiert.

Dieser historische Zusammenhang von Schmidts Poetologie und Textproduktion wird von Hanuschek sträflich vernachlässigt. Darum vermag er auch Mohlers längst keine Mindermeinung mehr darstellende These nicht zu diskutieren, daß Schmidt nach dem 1958 erfolgten Umzug aus Darmstadt an den Rand der Lüneburger Heide, in die Selbstisolation des weltgeschiedenen 300-Einwohner-Dorfes Bargfeld, zunehmend unfähig gewesen sei, Wirklichkeit zu erfassen und in Literatur zu übersetzen. Mit dem Typoskriptroman „Zettels Traum“, dreispaltig auf 1.352 Seiten gesetzt, was 5.500 Seiten eines Buches im normalen Oktavformat entspricht, habe Schmidt „Harakiri“ begangen. Allein eine „Sekte von Kreuzworträtsellösern“, erpicht darauf, in die immer dichter gewebten Assoziationsteppiche der daran anschließenden DIN-A3-Ungetüme „Die Schule der Atheisten“ (1972) und „Abend mit Goldrand“ (1975) einzudringen, sei an dem nur noch für sich selbst schreibenden Autor nicht irre geworden. 

Aus Mohlers Perspektive verabschiedete sich damit der sprachmächtigste Zeitkritiker, den in den frühen Sechzigern der oberlehrerhafte Ehrgeiz trieb, mit seinem Werk erzieherisch wirken und der „Dummheit einer ganzen Nation“ beikommen zu wollen just in dem Moment aus der Öffentlichkeit, als der bildungsferne 68er-Pöbel sie endgültig zu dominieren begann. Dabei hatte Schmidt noch 1965 – bei vorherrschend Schopenhauerscher Disposition zur Schwarzmalerei – von der Wiederauferstehung Europas als Wiege der Kultur geträumt. 1973 dann, in der von den „Qualitätsmedien“ skandalisierten Dankesrede zur Verleihung des Goethe-Preises, ließ er an seiner Verachtung für das Gesellschafts- und Kulturgeschehen keinen Zweifel mehr. Während die von jeher realitätsblinde Gruppe 47 und ihr Anhang aus dem literarischen Journalismus in die offene Agitation abmarschierte und nichts mehr die hereinbrechende Flut des Liberalismus aufgehalten habe, suchte der große kulturkonservative Realist und bereits gesundheitlich arg angeschlagene Schmidt sein esoterisches Heil in der „reinen“ Literatur: „Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare“, wie es im nachgelassenen Romanfragment „Julia, oder die Gemälde“ programmatisch heißt.

Der Biograph korrigiert zahlreiche Schmidt-Klischees

Hanuschek, der sonst jeden Stein umdreht und der noch vom Leserbrief eines gewissen stud. jur. Alexander Gauland Notiz nimmt, scheint Mohlers Essay nicht gekannt zu haben und konnte ihn daher nicht nutzen, um mehr Struktur in sein imponierend materialreiches, aber analytisch erstaunlich schwaches Monumentalwerk zu bringen. Dabei dokumentiert eines seiner stärkeren Kapitel, das über Schmidt und seine Leserschaft, wie naiv Mohler das Klischee vom misanthropischen Eremiten in der Heide übernimmt und dabei seinerseits die kultur- und sozialgeschichtliche „Wirklichkeit“ der Bonner Republik aus den Augen verliert.

Schmidt ist trotz des „Kommunikationsabbruchs“ nach 1965 nie ein Nischen-Autor gewesen, sondern glänzte auf dem Buchmarkt stets mit hohen Absatzzahlen. Auch das hochpreisige Riesenbuch „Zettels Traum“ brachte es bis 2019 auf 32.000 Exemplare. Zurückhaltend geschätzt erreichte die 1985 veröffentlichte, deutlich günstigere Haffmanns-Ausgabe des erzählerischen Werks eine Auflage von 130.000. 

Von Selbstisolation, wie sie Mohler behauptet, ist keine Rede. Sein „Wunschpublikum“, die „gebildeten Handwerker“, habe Schmidt, wie Hanuschek dem Postberg im Bargfelder Nachlaß entnimmt, zielsicher erreicht. Überhaupt lasse sich anhand der Korrespondenzen sagen, scheint nicht nur die DDR ein „Leseland“ gewesen zu sein. Denn auffällig viele Briefe stammen aus einer in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren noch vorhandenen breiten, literarisch interessierten Mittelschicht: Freiberufler und Angestellte bunt gemischt, Techniker, Mediziner, Ingenieure, Rechtsanwälte, Hausfrauen, Studenten. Die Überlieferung zeuge von enger Bindung zu seinen Lesern, von denen nicht wenige ihren Meister auch am Bargfelder Gartenzaun belagert hätten. Und die, wenn er sich denn zeigte, nicht den in der Presse dämonisierten Menschenfeind hinter der Rauhbein-Maske, sondern einen „heiteren und entspannten Autor“ erlebten. Korrekturen zahlreicher Schmidt-Klischees dieser Art, die nach wie vor vielen den Zugang zum Werk erschweren, sind wohl das wichtigste Verdienst von Hanuscheks Biographie des 1979 verstorbenen, zum „Schreckensmann“ stilisierten Bargfelder „Gehirntiers“. 

Arno-Schmidt-Stiftung im Netz

 www.arno-schmidt-stiftung.de

Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser

 www.gasl.org/wordpress/

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Biographie. Carl Hanser Verlag, München 2022, gebunden, 992 Seiten, 45 Euro