© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Preußen blieb nur ein Spielball
Sven Prietzel über Souveränitätsfragen unter Napoleons Knute nach dem Tilsiter Frieden von 1807
Wulf D. Wagner

Niemand Geringeres als der „gewissenlose Napoleon“ stand im Fokus des Liebenberger Gutsherrn Friedrich von Hertefeld, wie er im Brief vom Februar 1808 an seine Tochter Alexandrine in Königsberg mitteilt: „Den Mut mußt Du nicht verlieren, Du bist in den Jahren, noch bessere Zeiten zu erleben, diese Aussicht bleibt mir aber nach durchlebten 61 Jahren nicht. Dem unerachtet arbeite ich wieder darauf los, als wenn ich noch lange Zeit vor mir hätte. Dabei denke ich, solange man noch den Kopf oben behält und die Beine unten, muß man seinen alten Weg gehen. Wir sind doch alle weit glücklicher, als der Urheber allen Übels, denn wie mag es mit dessen Gewissen stehen? Es ganz zu unterdrücken ist nicht möglich und sicherlich ist er allen Gefahren entgangen, um dereinst mit seinem Gewissen eine lange Konferenz zu haben.“

Aggressives Vorgehen Napoleons in Deutschland wird klar benannt

Preußen war besiegt und nach wie vor in Teilen okkupiert. Zwar wurde am 9. Juli 1807 der Friede zu Tilsit geschlossen, aber Napoleon hielt sich an keine der Absprachen. Preußen wurde, wie viele andere Länder Europas, von dem französischen Machthaber ausgeplündert, es blieb sein Spielball. Wer dies nun bis ins Kleinste der nie festgelegten Kontributionszahlungen, der Eide preußischer Beamten auf den Franzosen, der kleinen Widerstände in der Bevölkerung und der Maßnahmen dagegen – sei es durch Geheimpolizei oder Zensur – nachlesen will, wer sich ein Bild von den Reformideen durch politisierende Denker, Staatsmänner und die Ständevertreter machen will, dem stellt Sven Prietzel eine Fülle an Materialien zur Verfügung, bauend auf einer reichen Forschungsliteratur, erweiternd durch eigene Archivrecherchen wie auch französische Werke.

Prietzel ist sorgfältig, seine Bildung, die sich in einem breiten Lesen kundtut und nicht der heutigen Vorgabe folgt, nur noch das Neueste vom Neuen zur Kenntnis zu nehmen, ist spürbar. Er wagt, die – im übrigen glänzend lesbare – „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ von Heinrich von Treitschke, Leopold von Ranke oder Carl Schmitt zu nennen. Das kann heute geradezu als mutig bezeichnet werden, wo doch manch ein Lehrstuhlinhaber sein Lesen und Abschreiben „umstrittener“ Historiker lieber erst gar nicht kenntlich macht. 

Die staats- und völkerrechtlichen Zusammenhänge, die Klärung, „wie es sich um die Souveränität in der Verfassungswirklichkeit Preußens unter dem Eindruck des Tilsiter Friedens verhielt“, sind zentrale Themen. Wer handelte, wer konnte überhaupt handeln, zumal durch Frankreich „die Grundsätze der bisherigen Ordnung in Frage“ gestellt waren? Zunächst blieben die Besatzungstruppen im Land; der Rückzug wurde mit immer neuen Forderungen des französischen Kaisers verbunden. 

Von Vertragssicherheit keine Spur, aber Lösungen mußten gefunden werden, eben auch beim Aufbringen der Gelder. Prietzel beschreibt dies detailreich mit unzählig scheinenden Verhandlungen und mancher Demütigung, die der preußische König Friedrich Wilhelm III. noch hinnehmen mußte, um die Herrschaft über das stark verkleinerte Staatsgebiet zurückzuerlangen. Letztlich wäre er lieber in Königsberg geblieben, als sich dem jederzeit möglichen Zugriff Napoleons in Berlin auszuliefern, einem unersättlichen Herrscher, der nun für einige Jahre verbunden mit Rußland – dessen Handeln Prietzel mit durchdenkt – schon längst in weitere, zu erobernde Räume schaute. Prietzel scheut sich an keiner Stelle, „das aggressive Vorgehen des französischen Kaisers in Deutschland“, „das Schachern mit preußischen Territorien“ zu benennen; er zeigt auf, wie auch das neugegründete Herzogtum Warschau nur ein Satellit im französischen Machtgefüge war. 

Aber dies ist nur der außenpolitische Teil des Buches, noch genauer schaut Prietzel in die Innenpolitik, fragt nach der Souveränität des Königs und seiner Regierung, die in Königsberg – man möchte es heute kaum glauben – aus nur rund fünfzig Personen bestand. Wer übte denn eigentlich die Macht und die Verwaltung aus in Brandenburg, Pommern oder Schlesien – und mit welchen Hürden, welchen Ideen aus der Bevölkerung oder welchen Ansprüchen der Stände war zu rechnen, denn letztere dachten nicht nur über die zu zahlenden Gelder nach, sondern wie etwa der oben zitierte Hertefeld auch über das in Königsberg von den großen Köpfen der Reformer vage und wankend ausgearbeitete Neue im Staat. 

Und so erfährt der Leser detailliert ausgearbeitet viel über die Friedensvollziehungskommission, die Grenzziehungskommission, gestiegene Lebensmittelpreise, Reduktion der Armee, Kunstraub, Francs und Taler und den Anspruch der Stände auf Teilhabe bei den Entscheidungen. Aber man erfährt das alles irgendwo in dem Buch. Es fehlt eine Linie, oder zumindest ist dem Rezensenten die Ordnung nicht klargeworden. Letztlich war es trotz größten Interesses für das Thema gegen Ende nur noch ein Durchmühen. Woran aber liegt das? 

Ideologisierung der Wissenschaft behindert klare Gedankenführung

Im Grunde ist das Buch ein Beispiel dafür, wie ordentlich recherchierende, ideenreiche und belesene junge Historiker durch den Lehrbetrieb – es handelt sich um eine Dissertation – von Klarheit und Lesbarkeit abgelenkt und letztendlich an ihrem freien Weg im heutigen Wissenschaftsbetrieb behindert werden. Dies führt dazu, daß jüngere Autoren trotz all ihrer guten Kenntnisse ängstlich meinen, alles genau und mit noch einem Nebensatz und noch einem eigentlich unnötigen Adjektiv absichern zu müssen; auf den mitdenkenden Leser wird nicht vertraut – und wer die Ideologisierung an den Universitäten kennt, der weiß, daß da Vertrauen in Lesefähigkeit tatsächlich riskant ist. Damit aber geht die klare Gedankenführung oder der Erzählstrang verloren. Obwohl Prietzel durchaus den modischen Jargon vermeidet, ja gut formuliert, wird der Rezensent doch nicht das Gefühl los, daß er wußte oder man ihm sagte, was dann eben doch von ihm erwartet wird in der allgemeinen scientific correctness, nämlich eben wenigstens doch ein bißchen „semantische Erweiterung“, „dispensierte innere Souveränität“, „Ressourcenextraktion“, „Politisierungsphänomene“ und unausweichliche Modeworte von „Kommunikation und Partizipation“ bis zu enlightened nationalism. 

Was bleibt? Die Bevölkerung hing an ihrem König, und der kommt endlich einmal gar nicht so schlecht weg. Seine Souveränitat und die seines Staates wurden erst in den Befreiungskriegen wiederhergestellt; das ist nicht mehr Thema des Buches.Dafür daß das Buch – leider – nur in dem Kreis des die nächste Fußnote fabrizierenden engsten Wissenschaftsbetriebes bleibt, sorgt nicht zuletzt der stattliche Preis des Werkes. Aus welchen Gründen auch immer Prietzel sein Fach verlassen hat – es ist verstehbar, aber bedauerlich, denn gerade diese Zeit preußischer Geschichte braucht gründliche und kluge Historiker, ist sie doch – und das wird bei der Politik Napoleons, wie sie Prietzel beschreibt, deutlich – hochaktuell.

Sven Prietzel: Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung. Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807–1810. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2021, broschiert, 408 Seiten, 99,90 Euro