© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Stalins Feldzug gegen die Juden
Die „Nacht der ermordeten Poeten“ im August 1952 markierte den Höhepunkt antisemitischer Übergriffe in der Sowjetunion
Thomas Schäfer

Juden wurden nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland verfolgt, sondern auch in der bolschewistischen Sowjetunion. Maßgeblich verantwortlich hierfür war Stalin, welcher es stets abgelehnt hatte, die Juden als eigenständige Nation anzuerkennen und eine bedingungslose Assimilation forderte. Andererseits bemühte sich die Kreml-Führung jedoch, eine proletarische Alternative zum Zionismus zu schaffen. Daraus resultierte beispielsweise die Schaffung der Jüdischen Autonomen Oblast 1934 im Fernen Osten am Amur.

Nach dem Beginn des deutschen Rußlandfeldzuges bewiesen viele jüdische Sowjetbürger eine außergewöhnliche Loyalität gegenüber dem bolschewistischen Regime. Etwa die Hälfte aller Juden, welche in der Roten Armee dienten oder als Partisanen Widerstand leisteten, kam im Kampf ums Leben. Desgleichen trugen die jüdischen Intellektuellen das Ihre zum Sieg der UdSSR bei, indem sie mit Stalins Segen das Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK) gründeten, welches im Westen erfolgreich um materielle und moralische Unterstützung für die Rote Armee warb.

Deshalb schien es nach Kriegsende zunächst so, als ob die Zukunft der Juden in der Sowjetunion gesichert sei. Es gab sogar Gerüchte über die bevorstehende Gründung einer eigenen Sowjetrepublik auf der Krim. Dann freilich änderte sich das Klima im aufkommenden Kalten Krieg auf ganzer Linie. Nachdem Stalin zunächst für die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina votiert hatte, um die Position der Briten im Nahen Osten zu schwächen, mußte er alsbald erleben, daß Israel sich dezidiert nach Westen orientierte. Daraus resultierte ein extremes Mißtrauen gegenüber den Juden in der Sowjetunion. So wetterte der Diktator beispielsweise: „Jeder jüdische Nationalist ist ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes. Die jüdischen Nationalisten glauben, ihre Nation sei von den USA gerettet worden.“ Deshalb befürchtete Stalin nun eine regelrechte „zionistisch-imperialistische Verschwörung“ gegen die UdSSR.

Und so eskalierte die Lage nach und nach. Zunächst veröffentlichte das KPdSU-Zentralorgan Prawda am 21. September 1948 einen ganzseitigen Artikel des dezidiert kremltreuen jüdischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg, in dem es hieß, die Zukunft des Judentums liege in der Sowjetunion und nicht im „fernen kapitalistischen“ Israel. Diese Aussage wurde dann allerdings durch einen Text im gleichen Blatt konterkariert, der am 28. Januar 1949 erschien und als scharfe Hetzrede gegen „böswillige Kosmopoliten … ohne Wurzeln und ohne Gewissen“ daherkam, die sich unzweifelhaft gegen die jüdischen Intellektuellen richtete. Viele von denen saßen freilich schon seit September 1948 in Haft – darunter auch einige prominente Angehörige des noch im November des gleichen Jahres aufgelösten JAK. Das Komitee, welches der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs allerlei handfeste militärische und finanzielle Hilfen beschert hatte, war Stalin dabei mittlerweile nicht nur wegen seiner Sympathien für den im Mai 1948 gegründeten Staat Israel ein Dorn im Auge, sondern ebenso aufgrund der vielfältigen Bemühungen um eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur nach dem Holocaust, die der Diktator als Kampfansage an die kommunistische Ideologie wertete.

Beweise für staatsfeindliche Umtriebe oder Spionage fehlten

Zwischen September 1948 und April 1952 wurden die in Haft befindlichen JAK-Mitglieder intensiv verhört beziehungsweise auch brutal gefoltert, ohne daß sich – über einige wenige herausgeprügelte Scheingeständnisse hinaus – substantielle Hinweise auf staatsfeindliche Umtriebe oder Spionage für den Westen ergaben. Dennoch initiierte die UdSSR-Justiz einen der für sie so absolut typischen Geheimprozesse, welcher am 18. Juli 1952 mit 13 Todesurteilen gegen jüdische Schriftsteller, Ärzte, Journalisten und Übersetzer endete, obwohl der Vorsitzende Richter Alexander Tscheptsow zuvor die miserable Qualität des Beweismaterials gerügt und zweimal an die Kremlführung appelliert hatte, weitere Untersuchungen anzuordnen. 

Wegen seiner Zweifel lehnte er auch die sofortige Hinrichtung der Angeklagten ab. Diese erfolgte erst in der Nacht vom 12. zum 13. August 1952 im Keller des Lubjanka-Gefängnisses in Moskau – nun wahrscheinlich auf direkte Anordnung von Lawrenti Beria, Stalins Mann fürs Grobe. Weil dabei auch die Schriftsteller David Hofstein, Itzik Feffer, Leib Kwitko, Perez Markisch und David Bergelson erschossen wurden, gilt der Zeitpunkt der Hinrichtung heute als „Nacht der ermordeten Poeten“.   

Bei dieser Auslöschung von Angehörigen der intellektuellen Elite der sowjetischen Juden sollte es nach dem Willen Stalins jedoch nicht bleiben, wobei wiederum die Prawda den Startschuß zur nächsten Verfolgungswelle gab. Die Zeitung berichtete am 13. Januar 1953 über „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte“, welche allesamt Juden seien und hochrangige Parteifunktionäre und Militärs ermordet oder zumindest den Versuch dazu unternommen hätten. Damit drohte ein noch größeres Aufbranden des Antisemitismus in der UdSSR. Möglicherweise wäre es im selbigen Zusammenhang sogar zur Deportation sämtlicher jüdischer Bürger der Sowjet-union nach Sibirien gekommen. Der mit großem Aufwand vorbereitete Schauprozeß gegen die beschuldigten Mediziner fiel jedoch aus, weil Stalin am Abend des 5. März 1953 an den Folgen zweier Schlaganfälle verstarb und die neue Kremlführung das Verfahren umgehend einstellen ließ.

Gleichzeitig wurde der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Michail Rjumin für die Erfindung der „Ärzteverschwörung“ verantwortlich gemacht und schließlich am 22. Juli 1954 hingerichtet. Dahingegen dauerte es noch bis zum November 1955, ehe das Oberste Gericht der UdSSR das Verfahren gegen die früheren Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitee als unrechtmäßig einstufte und die Betroffenen rehabilitierte. Dies änderte freilich nichts daran, daß die jüdische Intelligenz in der Sowjetunion seit 1948 nur noch ein Schattendasein führte. 

Foot: Sowjetische Juden im US-Exil gedenken des 25. Jahrestages der „Nacht der ermordeten Poeten“, Denver 1977: Nur Stalins Tod verhinderte weitere Mordexzesse