© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Um Heeres Breite
Bundeswehr: Die größte Teilstreitkraft bekommt – wieder einmal – eine neue Struktur / Wenigstens eine Division soll bis in zwei Jahren einsatzbereit sein / Übertriebene Erwartungen?
Ferdinand Vogel

Spätestens seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine und der daraufhin von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag festgestellten „Zeitenwende“ ist für jeden Beobachter offensichtlich, welche Bedeutung ein gut ausgestattetes und schlagkräftiges Heer hat:  Es  muß Geländegewinne erzielen, diese auch gegen Angriffe verteidigen und den Raum halten. Unter dem Eindruck der neuen, angespannten Sicherheitslage hat das Verteidigungsministerium die neue Heeresstruktur gebilligt, die nun umgesetzt werden kann. Überdeutlich wird dabei, daß ambitionierte Ziele für ein besser und breiter aufgestelltes Heer zwar formuliert werden, jedoch mit hohen Hürden verbunden sind. 

Die reformgeplagte Bundeswehr erlebt jetzt also eine weitere Umgestaltungsphase. Dabei fällt zunächst auf, daß eine Sache vom Tisch ist, die die Vorgängerin von Christine Lambrecht an der Spitze des Ministeriums, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), und ihr Stab angestoßen hatten: die Abschaffung der Streitkräftebasis (SKB). Durch die Auflösung der Organisationsbereiche Sanitätsdienst und Streitkräftebasis und deren sukzessive Reintegration in die bestehenden Teilstreitkräfte sollte die Bundeswehr schlanker und weniger bürokratisch werden: weniger Stäbe, mehr Einsatzkräfte. Zu den Befürwortern dieser Maßnahme gehörte auch der über den Regierungswechsel hinaus amtierende Generalinspekteur Eberhard Zorn. 

Statt dessen bleiben nun Streitkräftebasis und Sanitätswesen doch eigenständig. Dagegen will man in der SKB ein neues Logistikbataillon, zwei ABC-Abwehrkompanien und eine zusätzliche Feldjägerkompanie aufstellen, um die bessere Verzahnung der Logistik die und Zusammenarbeit in der Nato in Europa zu ermöglichen. Knapp 2.000 neue Dienstposten sollen dem Papier zufolge dafür geschaffen werden.

In der Teilstreitkraft Heer gibt es die wichtigsten und größten Änderungen: Hier sollen die drei bestehenden Divisionen bis 2025 und 2027 maßgeblich umgebaut werden. Neben den Kampfbrigaden kommen die sogenannten Divisionstruppen zurück, die ihre Verbände direkt aus dem Stab der Division befehligen. Eine Struktur, die die Bundeswehr vor allem im Kalten Krieg hatte.

Hinzu kommen die sogenannten mittleren Kräfte, die mit Gepanzerten Transport-Kraftfahrzeugen vom Typ Boxer (GTK Boxer) ausgerüstet in zwei der drei Divisionen mit insgesamt drei Brigaden vertreten sein werden. Abgesehen von der Umstellung auf diesen Radpanzer gibt es bei den Waffensystemen kaum Veränderungen, die Auswirkungen auf die Struktur haben. Die Panzerbrigade 21 der 1. Panzerdivision aus Augustdorf verliert ihr Panzerbataillon 203 an die Panzerlehrbrigade 9 aus Niedersachsen. 

Deutschland hat sich innerhalb der Nato verpflichtet, bis 2025 wenigstens eine einsatzbereite Division aufzustellen, die in einem konventionellen Krieg durchhaltefähig sein und genug Kampfwert zu haben muß, um den Gegner abzuschrecken. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, gibt in einer Erklärung über die Reformen jedoch zu, daß die Truppe noch ein ganzes Stück davon entfernt ist, diese Zielvorgabe der Nato zu erfüllen.

Die Truppe kämpft  gegen Personalmangel

Die Bundeswehr hat zumindest auf dem Papier verstanden, daß die Kernaufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung wieder gefragt ist. Künftig soll das Heer mit dem Aufbau von neuen Korpstruppen ergänzt werden, um die Durchhaltefähigkeit der Truppe zu erhöhen. Mit dem neuen „New Force Model“ der Nato soll es ab 2025 möglich sein, in Europa Truppen in Divisionsgröße innerhalb kürzester Zeit zu mobilisieren. „Kaltstartfähigkeit“ lautet das Zauberwort. Sie gilt als erreicht, wenn die Truppe ohne lange Vorwarnzeit einsatzbereit ist. Dazu müssen alle relevanten Teile materiell und personell voll ausgestattet und ausgebildet sein. Zudem müssen sowohl Kampf- als auch Kampfunterstützungsverbände (wie Aufklärer oder Nachschub) aufeinander abgestimmt und eingespielt sein. Vor allem der bereits erwähnten 1. Panzerdivision wird innerhalb des Zusammenspiels mit den Verbündeten hier eine tragende Rolle zugewiesen. 

Auch bei der Division Schnelle Kräfte des Heeres wird es Veränderungen geben. So sollen beispielsweise die Gebirgsjäger der Gebirgsjägerbrigade 23 „Bayern“ aus der 10. Panzerdivision herausgelöst und der Division Schnelle Kräfte hinzugefügt werden. Das impliziert natürlich, daß es hier auch inhaltliche Veränderungen bei Ausbildung und Ausrüstung geben wird.

Woher allerdings die Soldaten kommen sollen, um die noch immer recht klein gehaltenen Ziele des Verteidigungsministeriums zu erfüllen, wird nicht verraten. Immerhin sollen bis 2027 etwa 7.500 Stellen für Reservisten geschaffen werden und damit etwa 3.000 mehr als bislang. Klar ist, daß es angesichts demographischer Probleme und immer kleiner werdender Jahrgänge in der postheroischen Gesellschaft Deutschlands zunehmend schwieriger wird, alle Dienstposten zu besetzen. Die Bundeswehr kämpft seit Jahrzehnten mit Personalmangel, weshalb folgerichtig gut ausgebildete und geübte Reservisten immer wichtiger für die Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Wiedereinführung der ausgesetzten, aber nie abgeschafften Wehrpflicht in der politischen Debatte längst kein Tabu mehr. 

Die „tiefe Integration“ der Reserve in die aktive Truppe ist eine Wortschöpfung, die zumindest die Absicht offenbart, die Reservisten enger mit den Berufs- und Zeitsoldaten zu verzahnen. Laut aktuellem Wehrbericht bleiben vor allem viele Dienstposten bei den Unteroffizieren unbesetzt. Es fehlt überall an geeignetem Nachwuchs für die Truppe, die zunehmend älter wird und ihre selbstgesteckten Ziele beim Aufwuchs auch 2021 verfehlte. Von den angestrebten 203.000 Soldaten dienen derzeit nur etwa 183.695 (Stand März) in der Truppe.

Gebraucht werden Rohre, Rohre und noch mehr Rohre

Und dabei decken die obengenannten Neuaufstellungen in der Logistik und der SKB nur einen Bruchteil dessen ab, was die Truppe eigentlich benötigt. Der Ukraine-Krieg unterstreicht etwa die wieder gestiegene Bedeutung der Artillerie, die innerhalb der deutschen Streitkräfte seit Jahrzehnten abgebaut wird und mittlerweile nur noch aus vier Bataillonen besteht (JF 24/22). Fünf weitere sind zwar bis 2027 geplant, dürften jedoch angesichts der Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr kaum vollständig mit Soldaten zu füllen sein. 

Dabei ist vor allem bedenklich, daß gerade die niederländischen Heeresbrigaden, die den Reformplänen zufolge noch weiter in die deutsche Heeresstruktur integriert werden, keinerlei eigene Artillerie mit ins Feld führen. Und auch sonst sind bis auf die Polen und Franzosen alle europäischen Verbündeten innerhalb der Nato in Sachen Artillerie schlecht ausgestattet. Deutschland müßte mehr leisten – Schlachtruf: „Mehr Rohre!“–, kann es aber nicht. 2017 hatte ein internes „Fähigkeitsprofil“ ganze 14 Artilleriebataillone gefordert.  

Wie viel von den ambitionierten Reformplänen des Verteidigungsministeriums nach 2027 wirklich umgesetzt wird? Manche Praktiker und Fachleute sind da eher skeptisch. Was auf dem Papier nach mehr aussieht, ist es nicht automatisch in der Wirklichkeit. Woher kommen die Leute und das Material für neue Kompanien oder Bataillone? „In der Regel müssen erst einmal bestehende Einheiten etwas abgeben“, meint ein früherer Offizier ernüchtert. „Damit ist noch nichts gewonnen.“ Auch der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Hans-Peter Bartels warf den Verantwortlichen „Schönrechnerei“ vor: „Eine Division wird in der Zusammensetzung einsatzfähiger, dafür wird die andere weniger einsatzfähig. Das sieht nach einem Nullsummenspiel aus“, sagte er der Bild-Zeitung.

Es wäre nicht überraschend, wenn in vier Jahren die jetzt schon niedrigen Zielmarker nochmals nach unten korrigiert werden müssen.


Leicht, schwer, mittel

Die sogenannten mittleren Kräfte sollen im deutschen Heer verstärkt werden. Klassisch unterscheidet man zwischen leichten und schweren Kräften. Zu den leichten gehören zum Beispiel die luftbeweglichen Teile der Infanterie. Sie können schnell an entfernte Orte verlegt werden, sind dort allerdings nicht gut geschützt. Das Gegenteil gilt für schwere Kräfte wie Panzer- oder Panzergrenadiertruppen: gut geschützt, aber schwerfälliger. Die neu aufzustellenden mittleren Großverbände sollen beides sein: Mit Radpanzern (anders als Kettenfahrzeuge schneller und selbständig auf der Straße, aber auch geländegängig) können sie einerseits schnell in weit entfernte Einsatzräume verlegt werden, anderseits dort geschützt über einen längeren Zeitraum durchhalten. (vo)