© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Ganz schön mutig
Bergkarabach: Rußland, die Türkei und der Iran spielen mit dem Feuer
Jörg Sobolewski

Die Eskalation im Bergkarabach-Konflikt Anfang August wirft ein Schlaglicht auf die höchst angespannte Situation in der Region. Gleich drei Großmächte – Rußland, die Türkei und der Iran – betreiben dort im Südkaukasus ein Spiel mit dem Feuer. Der russische Angriff auf die Ukraine und die dadurch bedingte Schwächung russischer Einheiten in der Region droht das Mächtegleichgewicht zu verschieben. 

In den letzten Juli-Tagen entfachte in der von Eriwan und Baku umkämpften Region Bergkarabach ein Konflikt aus dem Jahr 2020 erneut. Nach wechselseitigen Schießereien begann die aserbaidschanische Armee eine Blitzoffensive und übernahm die Kontrolle über mehrere strategische Anhöhen. Die Regierung der armenischen Separatisten in Stepanakert rief daraufhin die Mobilmachung aus. 

Der Iran will sich nicht alles gefallen lassen

Seitdem schwelt der Konflikt in der Region und treibt besonders hochrangige Militärs in Teheran, Istanbul und Moskau um. Denn was 2020 mit einem Waffenstillstand eine wenigstens halbwegs stabile Lösung hätte sein sollen, hat sich schlußendlich als völlig unübersichtliche Gemengelage aus unklaren Grenzverläufen und „Friedenstruppen“ aus der Türkei und Rußland erwiesen. 

Im November 2020 beschlossen die Regierungen von Armenien, Rußland und Aserbaidschan einen Waffenstillstand. Als dessen Kern gelten unter anderem der weitgehende Rückzug armenischer Truppen aus besetzten Gebieten in Aserbaidschan und die Stationierung russischer Truppen in der Region. Präsident Wladimir Putin konnte seinen Machtanspruch in der Region als „ehrlicher Makler“ unter Beweis stellen und überdies den Armeniern die Machtlosigkeit ihrer Lage vor Augen führen.

Dennoch, auch Putin mußte einem alten Bekannten einen Platz freiräumen. Die Türkei unter ihrem ehrgeizigen Präsidenten Recep T. Erdoğan, hatte vor allem mit der Lieferung von leistungsfähigen Drohnen an die verbündeten Aseris den Kriegsverlauf zugunsten Bakus beeinflußt. Ohne weitere Rücksprache mit Eriwan erhielten nun auch türkische Truppen Zutritt zum umkämpften Gebiet. Das Betreten der armenischen Gebiete in Bergkarabach blieb ihnen zwar verwehrt, aber im „russisch-türkischen Kontrollzentrum“ beteiligten sich fortan auch Türken an der Überwachung des Waffenstillstands. Rußlands Allmacht im Südkaukasus einen Dämpfer bekommen. 

Der Beginn der Feindseligkeiten in der Ukraine weckte nun erneut das Interesse in Aserbaidschan. Immer wieder kommt es zu vereinzelten Übergriffen von Aserbaidschanern auf armenische Soldaten und Zivilisten. Auffällig dabei ist die Häufung von Gefangennahmen. Beobachter im Westen sehen dahinter ein System, das darauf abzielt, die Pläne für Minensperren und -felder zu erhalten, um die nächste Offensive vorbereiten zu können. Mit einem schnellen Vorstoß, so hoffen einige in Baku, könnte man so zeitnah die Kontrolle über Bergkarabach und damit nicht nur den Zugang zur Exklave Nachitschewan, sondern auch eine Landverbindung zur Türkei schaffen – auf Kosten nicht nur der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, sondern auch der Republik Armenien, die bislang bis zur iranischen Grenze reicht. 

Der Iran zeigt sich auch in ungewohnt deutlicher Art über die Scharmützel verärgert. Daß Aserbaidschan die Kontrolle über weite Teile seines Territoriums wiedergewonnen habe, begrüße man zwar, so Großayatollah Ali Khamenei, aber eine Veränderung der iranisch-armenischen Grenze werde man nicht hinnehmen. Dies sei eine „Tausende Jahre alte Handelsroute“. Tatsächlich gilt der Iran in der Region seit langem als heimlicher Freund der Armenier. Beide Länder pflegen eine historische Abneigung gegen die Türkei und gute Beziehungen zu Moskau. Wenig überraschend verlegte Teheran auch kurz nach Khameneis Statement Streitkräfte in die Grenzregion – denn im Iran leben mehr Aseris als in Aserbaidschan. Die panturkistische Rhetorik Erdoğans fällt daher nicht nur dort, sondern auch in der iranischen Provinz gleichen Namens auf fruchtbaren Boden. Eine große „pantürkische“ Offensive im Südkaukasus könnte den inneren Zusammenhalt des Vielvölkerstaats Iran gefährden.