© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Güterzüge sollen per Verordnung Vorrang vor Personenzügen erhalten
Ein neuer Kriegsfahrplan
Jörg Fischer

Der Sommer 1939 war herrlich warm, Familien genossen ihren Urlaub, die Biergärten waren voll. Nur wenige wußten, daß längst Bezugsscheine in den Tresoren lagen. Düstere Vorahnungen bestätigten sich am 22. August: An jenem Dienstag trat der erste Notfahrplan für die Deutsche Reichsbahn in Kraft. Der Schnellverkehr wurde eingestellt, Züge fielen aus, Fahrzeiten verlängerten sich – die Wehrmacht brauchte Transportkapazität. Nun droht erneut ein Notfahrplan. Das Niedrigwasser im Rhein und die unterlassene Fahrrinnenvertiefung, was die Binnenschiffahrt einschränkt, ist nur ein Teil der Ursache, ebenso das sträflich vernachlässigte DB-Schienennetz.

Das Verkehrs- und das Wirtschaftsministerium wollen per Rechtsverordnung Bahntransporten von Öl, Gas, Importkohle und Transformatoren Vorrang gegenüber Personenzügen geben: Ziel sei, den „Betrieb von Kraftwerken, Raffinerien, Stromnetzen sowie von weiteren lebenswichtigen Betrieben sicherzustellen“, zitiert die Wirtschaftswoche aus einem Papier beider Bundesministerien. Das überrascht nicht – eine „extrem anspruchsvolle Logistik“ ist für eine Kriegswirtschaft unverzichtbar. Seit einer Woche ist das EU-Importverbot für russische Steinkohle in Kraft – die letzte deutsche Zeche wurde 2018 geschlossen. Die für Jahrhunderte reichende deutsche Braunkohle gilt als „schmutzigste“ Energiequelle überhaupt. Ab Jahresende boykottiert die Bundesregierung mit Unionszustimmung freiwillig russisches Erdöl – das Brüsseler Sanktionsregime hätte Ausnahmen erlaubt. Die letzten drei AKWs sollen Ende Dezember planmäßig vom Netz gehen, denn ab Neujahr verbietet das schwarz-gelbe Atomausstiegsgesetz von 2011 die heimische Nutzung der Kernenergie. Die jahrzehntelang verläßlich strömenden russischen Gaslieferungen sind kriegs- und sanktionsbedingt nun erstmals höchst fragil.

Doch alle Bundeskabinette, die großen Wirtschaftsführer und diverse Energiewender (Stichwort: Gas als Brücke zum Solar- und Windparadies) haben sich genau darauf verlassen – als Donald Trump oder polnische Politiker vor dieser Gas-Abhängigkeit warnten, wurden sie verlacht. Daß Züge sich demnächst noch mehr verspäten oder vermehrt Güterwagen eingesetzt werden, die gegen „geltende Lärmschutzstandards“ verstoßen, ist angesichts der selbst verursachten deutschen Misere wohl das kleinste Problem.