© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Im Hier und Heute verloren
Schulbildung: Bayerns Kultusministerium streicht Goethes „Faust“ als Pflichtlektüre aus den Lehrplänen
Eberhard Straub

Was du ererbt von deinen Vätern hast/ Erwirb es, um es zu besitzen.“ Aus eigener Erfahrung wußte Faust, daß Ererbtes erst durch Anstrengung zum wirklichen Besitz wird. Solche Mühe will das bayerische Ministerium für Unterricht und Kultus ab 2024 Schülern ersparen. Sie sollen nicht mehr dazu verpflichtet sein, den ersten Teil von Goethes „Faust“ zu lesen und sich arbeitend ein bedeutsames Erbe anzueignen.

Kritik an dieser Entscheidung übte die Klassik Stiftung Weimar. Sie ist für die Bewahrung des geistigen und materiellen Erbes der deutschen Klassik zuständig, in deren Zentrum das Wirken Johann Wolfgang von Goethes steht. In einem offenen Brief an Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder forderte die Stiftung den Regierungschef und das Kultusministerium dazu auf, die Entscheidung rückgängig zu machen. Wie kaum ein anderes Werk der Weltliteratur, schrieb Präsidentin Ulrike Lorenz, sei der „Faust“ ein „thematisch und sprachlich brisanter Anstoß zur Auseinandersetzung mit Grundlagen, Widersprüchen und dem Wandel in unserer heutigen Welt“. Heranwachsende würden sich an die Beschäftigung damit später auch deshalb erinnern, „weil sie Mühe gekostet hat“, so die Kunsthistorikerin Lorenz. „In einer reizgesteuerten, auf schnelle Belohnung ausgerichteten Kommunikationskultur geht es auch darum, Komplexität als Chance zu verstehen.“

Tatsächlich war der „Faust“ eine der wenigen  „Ganzschriften“, die zu bewältigen Abiturienten noch zugemutet wurde. Gemeint ist damit ein sich geschlossenes komplettes literarisches Werk – und nicht etwa nur einzelne Kapitel daraus oder Kompilationen. Denn bayerische wie überhaupt deutsche Schüler sollen gar nicht gründlich lesen und denken lernen, sondern Eindrücke austauschen, auf welche Art beliebige Fragmente, wie antiquarische Möbelstücke ihrem Zusammenhang entrückt, für sie zu einem Erlebnis werden oder in ihnen etwas zum Schwingen bringen. Nicht auf das literarische Kunstwerk in seiner besonderen Epoche und weiteren Wirkung kommt es an, sondern auf die Fähigkeit, über sich zu reden und im Zeitalter des Interessant-Vielfältigen nicht zu versäumen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In jedem steckt ein möglicher Prominenter. Die Schule hat die Aufgabe, gerade dieses Potential zu wecken und der größten Zahl zu dem höchsten Glück zu verhelfen, die Talkshow-Reife erreicht zu haben. 

Konzentration und Ausdauer könnten dem nur im Wege stehen. Ausschlaggebend sind Spontaneität, Empathie und Schlagfertigkeit in Übereinstimmung mit der vorherrschenden und deshalb unbedingt zu beherrschenden politischen Phraseologie. Ein aufmerksames Zuhören erübrigt sich, weil rasches Reaktionsvermögen erforderlich ist, um den Meinungsaustausch flott voranzutreiben.

Es sind nicht die Schüler, die solches verlangen. Lehrer und Bürokraten formen den Nachwuchs nach ihrem Bilde. Da es ihnen immer schwerer fällt, eine Schrift ganz zu lesen oder einem Vortrag, der länger als zehn Minuten dauert, zu folgen, halten sie es für dringend geboten, ihre Kinder davon abzuhalten, zu geistigen Abenteurern zu werden und in der weiten Welt zu vagabundieren, die sich ihnen durch Bücher öffnet. Sie könnten auf dumme, nicht mehr zeitgemäße, gar gefährliche Gedanken kommen, die dem Bildungsideal des wahren und wehrhaften Demokraten, fest verankert in den Werten des Westens, widersprechen. Sie haben es erreicht, daß nur noch sehr sonderbare Schwärmer in der Lage sind, mehr als ein paar Seiten am Tag zu lesen, ohne davon erschöpft zu sein und eines lebendigen Gesprächs zu bedürfen. 

Diese Entwicklung ist wahrscheinlich unvermeidlich geworden unter dem Druck der Demokratisierung auch in Reichen des Geistes und Geschmacks. Alexis de Tocqueville reiste 1831/32 durch die Vereinigten Staaten. Ihm fiel dabei auf, daß Demokraten im Theater ein Bild der Gegenwart fordern und das wirre Gemisch der Lebensumstände, das sie täglich vor Augen haben. Stücke, die für ein anderes Publikum in anderen Zeiten verfaßt worden waren, beschäftigen sie nicht weiter, weil sie sich nicht in andere, ihnen fremde Welten versetzen können. Wenn die Liebe ohne Umwege leicht zur Heirat führt und es nicht schwierig ist, sich scheiden zu lassen, werden die Tragödien und Komödien aus vordemokratischen Epochen unverständlich und uninteressant. Demokraten wünschen die genaueste Darstellung auch ihrer belanglosesten Eigenheiten und vergessen darüber das Allgemein-Menschliche, den Menschen, von dem sonst so viel die Rede ist. Sie verfehlen unweigerlich Wahrheit und Wirklichkeit, wenn sie diese nur im Innersten des verworrenen Herzens suchen, und verlangen deshalb unruhig immer weitere neue Sensationen, die erstaunlicherweise veranschaulichen, daß es in demokratischen Zeiten „ein Problem“ wird, im Zusammenleben mit den anderen zu sich zu finden. 

Tocqueville war ein Aristokrat, ein katholischer Christ, ein Historiker und Klassizist. Er hing noch unmittelbar mit dem Ancien régime zusammen, so daß es ihm gar keine Schwierigkeiten bereitete, sich in den Geist der Zeiten, der Völker und der Kulturen zu versetzen und sich dennoch in eine, wie er vermutete, unaufhaltsame Entwicklung zu schicken. Ganz anders verhält es sich mit den Schöngeistern etwa in der DDR, die zugleich ästhetische Sozialisten waren und im sozialistischen Realismus auf die beglückende Versöhnung von Schönheit und Wahrheit hofften. Das Erbe und der Umgang mit ihm, seine Aneignung, damit es ein wertvoller Besitz werde, blieb für sie eine dauernde Herausforderung. Denn als Marxisten waren sie Historiker und begriffen die Welt als Geschichte, in der alles Gewordene neues Werden bewirkt und zugleich auf Vergangenheiten verweist, die weiterhin, gerade in der Kunst, auch den Sozialisten bilden, ja für ihn unentbehrlich sind. 

Sie machten es sich nicht leicht, und vor allem nicht ihren Schülern und Studenten. Der Sozialismus war eine innerweltliche Buchreligion. Ohne Bücher, gründliches Lesen und Weiterdenken des schon oft Durchdachten konnte keiner ein wahrer Sozialist werden. Die Unruhe von Goethes „Faust“, ob im Anfang das Wort, der Sinn, die Kraft oder die Tat war oder alles vereint dem Wort einen besonderen Sinn verlieh und es zur Kraft machte, die sich in Taten äußerte, ließ sie nie zur Ruhe kommen. Unter solchen Voraussetzungen konnten Schüler gar nicht der Last enthoben werden, sich mit „Faust“ auseinanderzusetzen und ihn sich anzueignen. Ein Wort wie „Ganzschrift“ konnten nur auf bequemen Gebrauch von Waren fixierte Barbaren im Westen erfinden, denn jede Schrift bildete ein Ganzes und verdiente, zumal wenn längst klassisch geworden, gründliches Studium. Peter Hacks, mittlerweile ein Klassiker, demonstrierte mit einigen seiner Dramen, wie im Geiste Goethes, nicht in dessen Nachahmung, Sozialismus, Schönheit und Wahrheit einander ergänzten und zu neuer Form fanden. 

Er bestätigte damit, wie gegenwärtig Goethe und Weimar sein konnten. Er plauderte nicht über Erlebnisse mit Goethe und von seelischen Schwingungen, die Goethe in ihm auslösten, sondern er rief Gestalten ins Leben, deren Geschicke, im Sinne Tocquevilles, eine allgemeine Geschichte enthielten. 

Derselbe Peter Hacks konnte aber auch gegen die Romantiker oder Kleist polemisieren, als andere – wie etwa Günter Kunert – deren Erbe als Verpflichtung und Anregung begriffen. Diese Gegensätze bestätigten, wie sehr das Erbe nicht als Ballast oder Belästigung verstanden wurde, sondern als belebende Kraft. In der DDR, die sich stolz ein „Leseland“ nannte, galten Bücher als Lebensmittel, die gerade für den unentbehrlich waren, der den Alltag als beengend und entwicklungsfeindlich empfand. Bücher wiesen Wege ins Freie. Das taten sie immer. Denken ist gefährlich, sobald es nicht mit den Vorgaben übereinstimmt, die systemrelevante Meinungsführer durchsetzen wollen, auch in der sogenannten freien Welt, mit der sich „der Westen“ verwechselt. Es gab viele freie Welten vorher, da „die Freiheit“ nur eine Abstraktion ist, die sich, in der Welt als ständig veränderliche Geschichte, in mannigfachen Freiheiten verwirklicht. 

Daran können sich wehrhafte Demokraten und Verfassungspatrioten, die ununterbrochen beteuern, in der besten aller möglichen Welten (Leibniz) zu leben, nicht gewöhnen. Alle Vergangenheiten sind für sie nur vorbereitende, unzulängliche und überwundene Vorstufen zur Gegenwart mit ihrer „Fülle der Zeit“, in der die Geschichte ihr Ziel erreicht hat. Wie Tocqueville es beschrieben hat, sind sie stets mit sich selbst beschäftigt und so an die Aktualität verloren, daß ihnen alles Frühere immer fremder und von ihnen höchstens als ästhetischer Reiz „erlebt“ wird. Die klassische Mythologie, die Antike, die Bibel und Heiligenlegenden sind vollständig in Vergessenheit geraten. Damit ist ein erheblicher Teil von Kunstwerken aus vielen Epochen unverständlich geworden. Nur Unterricht, Bücher und unermüdliches Lesen könnten einen Zugang zu den fremd gewordenen Kunstwerken eröffnen. Das ist mühselig und macht gar keinen Spaß. Was keinen Spaß macht, überfordert aber jeden. So muß mit Aktualisierungen – gerade auf der Bühne – dafür gesorgt werden, daß sich die Leute von heute in ihrer Durchschnittlichkeit in Heroen und Göttinnen wiedererkennen oder sich ihnen überlegen fühlen dürfen, wenn diese ganz weltfremd von Tugenden, Mut, Tapferkeit reden oder singen und sich damit lächerlich aufführen oder als Präfaschisten zu erkennen geben. 

Die Vergangenheiten können beliebig denunziert und karikiert werden, Dramen sind nur Spielvorlagen, um mit ihnen die Überlegenheit des Heute über so viele, gottlob überholte Zeiten zu veranschaulichen oder davor zu warnen, nicht zurückzufallen in Vorurteile oder autoritäre Verhaltensweisen, die wahrhafte Demokraten sofort dazu aktivieren müssen, überall genau hinzuschauen, wo er dafür verantwortlich ist, allen möglichen Anfängen zu wehren. Geschichte meint nicht das zähe Bemühen, um zu erfahren, wie es eigentlich gewesen ist. Sie ist Sinngebung des Sinnlosen durch verschiedenste Sinnstifter, die erst in der Gegenwart des Westens ein sinnerfülltes Dasein erkennen können. Darin äußern sich keine Vorurteile oder eine autoritäre Haltung. Vielmehr sind wahre Demokraten reif geworden, sich nicht von Unzulänglichkeiten vordemokratischer Zustände täuschen zu lassen und Fiktionen zu erliegen. Warum also Schüler mit den Irrtümern oder überholten Vorstellungen ferner Gesellschaften belästigen? Es geht um das Hier und Heute, um nichts anderes. Je weniger sie mit dem Unsinn in Berührung kommen, den demokratisch unterentwickelte Orientierungshelfer einst verbreiteten, desto besser für ihre Bereitwilligkeit, sich in eine demokratische Verantwortungsgemeinschaft einzugliedern. 

In Anthony Burgess’ Roman „1985“ rebellieren in der Untergrunduniversität Freunde der Freiheit gegen den Zwang, sich den aktuellen Forderungen zu beugen. Sie wollen Griechisch und Latein lernen, lesen, denken und die Vergangenheit, in der die Freiheiten aufbewahrt sind, vor sich haben, als ob sie wirklich wäre. Einer von ihnen, Bev, sagt einem Gefährten: „Du hast recht, was die Vergangenheit angeht. Wir sind der Gegenwart und Zukunft nichts schuldig. Erhalte die Vergangenheit am Leben.“ Vor ihr ängstigen sich das System und seine Legitimisten, denn dort lauern die Freiheiten. Sie verbrennen keine Bücher, aber sie können sie aus dem Verkehr ziehen und verbannen, was ebenfalls Vernichtung bedeutet. Doch im Untergrund wirken sie fort, sofern es genug Rebellen gegen geistige Bevormundung gibt, die sich mit Büchern bewaffnen und als Leser gegen die Sklaven der Aktualität streiten.