© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Die Leiche im Sumpf und das Marschmädchen
Kino: Die Romanverfilmung „Der Gesang der Flußkrebse“ ist Krimi, Drama und naturphilosophische Betrachtung in einem – und funktioniert blendend
Dietmar Mehrens

Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts“, erfährt der Zuschauer gleich zu Anfang von „Der Gesang der Flußkrebse“. Es sind die Worte des gleichnamigen Romans von Delia Owens. Verborgen vom Dickicht tropischer Pflanzen jedoch, heißt es darin weiter, „schleicht sich hier und da echter Sumpf in tief liegende Moore, verborgen in feuchtkalten Wäldern“. Und dort, im echten Sumpf, liegt eine Leiche. Sowohl die Identität des Toten als auch die seiner mutmaßlichen Mörderin kann rasch ermittelt werden: Der Verblichene hieß Chase Andrews (Harris Dickinson). Und seine Freundin Kya Clark (Daisy Edgar-Jones) ist die Hauptverdächtige. Denn nur sie hat ein Motiv.

Welches das sein könnte, darüber läßt der Film der US-amerikanischen Regisseurin Olivia Newman sein Publikum lange im dunkeln. Lieber folgt er der Buchvorlage in das Jahr 1953 und erzählt die Vorgeschichte des mutmaßlichen Verbrechens, das auch ein Unfall gewesen sein könnte.

Kya hat gelernt, sich gegen Schicksalsschläge zu stemmen

Es ist eine Geschichte von Verzweiflung, häuslicher Gewalt und einem einsamen Haus mitten in der Wildnis von North Carolina, dessen Bewohner – das sind zunächst Kyas Mutter und danach alle ihre Geschwister – nach und nach die Flucht ergreifen. Kya ist das jüngste von fünf Kindern. „Sie wohnten mit Ma und Pa zusammengepfercht wie Stallhasen in der grob zusammengezimmerten Hütte, deren mit Fliegendraht umschlossene Veranda wie ein großes Auge unter den Eichen hervorstarrte“, beschreibt Delia Owens in ihrem Buch die Lebensumstände der Familie. Etwas entfernt erstreckte sich die weite Marsch, „meilenweit widerstandsfähiges Riedgras, das sogar in Salzwasser wuchs, nur unterbrochen von Bäumen, die der Wind nach seinem Belieben gekrümmt hatte“.

Zu ihrem sieben Jahre älteren Bruder Jodie hat Kya eine besondere Verbindung. „Er hatte ihr beigebracht, wie die verschiedenen Vögel sangen, wie die Sterne hießen, wie man das Boot durch Sägegras steuerte.“ Zum Abschied rät er ihr für den Fall, daß die väterlichen Übergriffe nun sie treffen sollten: „Versteck dich, wo die Flußkrebse singen.“

Irgendwann ist auch der gewalttätige Vater weg und Kya allein zu Haus. Die Minderjährige hält sich mit dem Verkauf von Muscheln im fünf Meilen entfernten Barkley Cove über Wasser, verbringt einen ersten und letzten Tag in der Schule, wo man ihr mit Mißtrauen und Ablehnung begegnet, und beschließt, die Wildnis zu ihrem Lehrmeister zu machen. Lesen und schreiben lernt sie als Heranwachsende dann doch noch. Das hat sie dem charmanten und verständnisvollen Tate Walker (Taylor John Smith) zu verdanken, in den sie sich verliebt. Doch Tate wird auch zum Urheber der größten Enttäuschung ihres Lebens. So wird das zum attraktiven Backfisch herangereifte Marschmädchen empfänglich für die Brautwerbung des undurchsichtigen Chase, der schließlich tot im Sumpf liegt.

Delia Owens’ Roman, der 2019 international Erfolge feierte, spielt im Jahr 1969. Thematisch und atmosphärisch erinnert manches darin an „Grüne Tomaten“. Auch in diesem Überraschungshit von 1991 ging es um gewalttätige Männer und Frauen, die klarkommen müssen. Nur ist im „Gesang der Flußkrebse“ der Ton ganz anders: ohne jene Leichtigkeit, die zur dargestellten Schicksalsschwere ein Gegengewicht bilden und die Schwermut auffangen könnte, die sich dadurch in dem Film ausbreitet. Immerhin: Hauptfigur Kya, der mit Tom Milton (David Strathairn) ein engagierter (und somit nicht ganz klischeefreier) Anwalt zur Seite steht, ist eine Kämpferin. Sie hat gelernt, sich gegen Schicksalsschläge zu stemmen, statt unter ihrer Schwere in Apathie zu versinken.

Olivia Newman ist eine makellose Umsetzung des Erfolgsbuchs gelungen: Ton und Atmosphäre sind hervorragend eingefangen, die Sümpfe von Louisiana bilden die ideale Kulisse für die eigentlich in North Carolina spielende Geschichte und alle Rollen großartig besetzt, so daß jede Figur bis in die Details glaubhaft wirkt. Die Pop- und Countrysängerin Taylor Swift steuerte das stimmungsvolle Titellied „Carolina“ bei.

Es gibt Feuchtgebiete, um die man lieber einen großen Bogen macht. Und es gibt Feuchtgebiete, die so wunderbar ins Bild gesetzt sind, daß es schade wäre, die Reise dorthin zu versäumen. „Der Gesang der Flußkrebse“ gehört eindeutig in die zweite Kategorie.


Kinostart ist am 18. August 2022 www.sonypictures.de/film/gesang-der-flusskrebse



Delia Owens: Der Gesang der Flußkrebse. Carl Hanser Verlag, München 2019, gebunden, 464 Seiten, 22 Euro