© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Erneute Lektüre in den Plauderbriefen Alfred Kerrs aus Berlin für die Sonntagsausgabe der Königsberger Allgemeinen Zeitung (Streifzüge vom 11. Juni 2021): Als Victoria Kaiserin Friedrich, Gemahlin des 99-Tage-Kaisers Friedrich III., am 5. August 1901 verstarb, ordnete ihr Sohn Kaiser Wilhelm II. eine Landestrauer von sechs Wochen an. Bis zur Beisetzung der Kaiserin durften keine „öffentliche Musik, Lustbarkeiten und Schauspielvorstellungen“ stattfinden. Deshalb sorgte sich der Theaterkritiker und Feuilletonist Kerr um den Lebensunterhalt von Künstlern, „denn in Folge der angeordneten Landestrauer sind zehntausend Musiker, Schauspieler, Sänger und wer sonst diesen Berufen nahesteht, zu Geldverlusten, wenn nicht zum Verlust der Existenz gebracht worden. (…) Man fragt doch: warum sollen gerade diese zehntausend Bürger, die nicht immer glänzend gestellt sind, wirtschaftlich leiden?“ Ein Schelm, wer dabei jetzt an die staatlichen Maßregelungen des Kultur- und Veranstaltungsbetriebs während der Corona-Pandemie denkt.

Ein kulturkonservativer, bissig-spöttischer Geist wie Harald Schmidt fehlt heute im deutschen Fernsehen.

Ein für allemal, Hitzesommer hin oder her: Barfußlaufen in Flip-Flops, Badelatschen oder Sandalen ist außerhalb der eigenen vier Wände und des Gartens für Männer tabu. Socken mildern die ästhetische Zumutung nicht.


Lesefundstück, entnommen der Kolumne von Anabel Schunke in der Schweizer  Weltwoche (Ausgabe vom 11. August): „Die linke Identitätspolitik hat den Drang des Menschen nach Zuordnung und Abgrenzung nicht aufgelöst. Sie hat nur die Bezugspunkte verändert und neu spezifiziert. Aber wer immer kleinteiligere Bezugsgrößen erschafft, zerteilt auch die Gesellschaft in immer kleinere Teile. (…) Ironischerweise ist es jedoch nicht der Ewiggestrige, der neue Gräben durch seine vermeintliche Intoleranz errichtet, sondern der Linke selbst, der die Feinde plötzlich auch in den eigenen Reihen vorfindet. (…) Heute streitet sich die Linke schon, wenn es um die Auswahl der richtigen Regenbogenflagge geht, weil sich immer irgendeine Minderheit von der anderen diskriminiert fühlt. (…) Höchste Zeit also, sich als Nichtlinker zurückzulehnen und das Popcorn herauszuholen.“


An diesem Donnerstag (18. August) kann Harald Schmidt seinen 65. Geburtstag feiern. Kultstatus erlangte der Theaterschauspieler, Kabarettist und Fernsehunterhalter spätestens ab 1995 als tabuloser Late-Night-Moderator der „Harald Schmidt Show“ (bis Ende 2003) auf Sat.1. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges durfte Schmidt schalten und walten, wie er wollte. „Mein Größenwahn ist, daß ich mich für den größten Entertainer der Zeitgeschichte halte“, sagte er im November 2001 dem Magazin Stern. Gut zwanzig Jahre später klingt das bei ihm in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland so: „Heute würde meine Sendung nach einer Woche abgesetzt werden.“ Wie dem auch sei, zweifelsfrei sicher ist, daß ein derart kreativer, bissig-spöttischer, bildungsbürgerlicher und kulturkonservativer Geist wie Harald Schmidt im deutschen Fernsehen schmerzlich fehlt.