© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Achtung, unbequem!
Ex-„Bild“-Chefredakteur Reichelt zieht neues Youtube-Format auf / Sein Rauswurf bleibt dubios
Ronald Berthold

Erneut ist ein hochfrequentes Rauschen aus dem Blätterwald der Axel Springer Mediengruppe zu vernehmen: Ralf Schuler, langjähriger Leiter der Parlamentsredaktion, hat Anfang Juli seine Mitarbeit bei der Bild-Zeitung gekündigt. Grund hierfür war eine seiner Ansicht nach zu aktionistische Diversity-Strategie des Verlags. Jetzt wird gemutmaßt, daß auch er wie die Ex-Kollegin Judith Sevinç Basad zum Start-Up des Ex-Chefs Julian Reichelt wechselt.

Ruhig war es um den nie geworden. Doch jetzt ist der meinungsstarke Ex-Chefredakteur der Bild-Zeitung wieder lautstark auf dem Boulevard unterwegs. Und zwar nicht nur wegen des Starts seines Youtube-Kanals „Achtung, Reichelt!“, sondern auch weil die Branche weiter über die dubiosen Umstände diskutiert, unter denen der 42jährige bei der größten Zeitung Deutschlands seinen Job verlor. Neue Recherchen legen nahe, daß die Spiegel-Geschichte, die zu seiner Ablösung beitrug, auf tönernen Füßen steht.

Reichelt hatte nach mehr als viereinhalb Jahren gehen müssen, weil ihm verschiedene Seiten, darunter der Spiegel, „Machtmißbrauch“ im Zusammenhang mit Beziehungen zu Mitarbeiterinnen unterstellten. Der Vorsitzende des Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, behauptete, Reichelt habe ihn über ein Verhältnis zu einer Kollegin angelogen. Dieser bestreitet das.

Ein Bericht des Medienmagazins kress erschüttert jetzt die ohnehin dünnen Belege für die Vorwürfe des Spiegels. So zeigten Textnachrichten, daß die zentrale Belastungszeugin des Magazins selbst nach dem Ende der Beziehung weiter Kontakt zu Reichelt suchte. Zudem erweckten, so schreibt kress, zwei ihrer Nachrichten den Eindruck, daß sie die Affäre mit ihrem damaligen Chefredakteur nicht bereut habe. 

Es geht um „Constanze Müller“. Der Name ist ein Pseudonym. Wem im Hause Springer ihre Identität bekannt ist, scheint unklar. Die Frau wurde von der Wirtschaftskanzlei Freshfields im Rahmen der Compliance-Untersuchung des Verlags befragt.

Der Spiegel zitierte augenscheinlich nur aus den dabei entstandenen Protokollen und recherchierte nicht weiter. Sonst wären den Reportern womöglich die Textnachrichten, die die Vorwürfe entkräften, in die Hände gefallen. Oder kannten die Magazin-Leute das Entlastungsmaterial und haben es bewußt unterschlagen?

Doch das zu fragen ist in der Branche nicht ohne Risiko. Immerhin gilt der Spiegel als die politisch korrekte Institution, an der sich andere Journalisten orientieren. Die Bild-Zeitung dagegen hat das Image als rechtes Haudraufblatt, und Reichelt gilt als der Bösewicht schlechthin. Also rechtfertigt sich der Chefredakteur des „Magazins für Führungskräfte in Medien“ kress, Markus Wiegand, schon im Editorial für die Geschichte: „Wir sind nicht Team Reichelt, und wir sind nicht Team Spiegel. Wir bringen Hinweise in eine Debatte, die man führen sollte.“ Außerdem betont er: „Wir sagen nicht, daß die Spiegel-Geschichte nicht stimmt. Wir sagen nur, daß die bisher präsentierten Belege schwach sind.“

Kein Vorwurf gegen ihn ließ sich erhärten

Damit hat er zweifellos recht. Nach professionellen Maßstäben hätte diese von acht Autoren verfaßte Story keinen Journalistenpreis verdient. Doch genau den hat sie im Juni bekommen. Da es aber zunehmend nicht ums Handwerk, sondern um die Haltung geht, war die Auszeichnung mit dem in „Stern-Preis“ umbenannten „Nannen-Preis“ keine große Überraschung. Das Kress meint, daß die Anti-Reichelt-Artikel im Spiegel „an einer Reihe von Stellen ein Beispiel dafür“ seien, „welche Fehler Journalisten nicht unterlaufen sollten“. An keiner Stelle werde die genaue Zahl der Frauen genannt, die Reichelt vorwerfen, seine Macht mißbraucht zu haben. Auch eindeutige Belege für nur einen Fall lieferte weder dieser noch ein sechs Monate zuvor erschienener Text. Der erste Bericht in der Ausgabe vom 13. März 2021 trug die Überschrift „Vögeln, fördern, feuern“. Dies sei, so der Spiegel, eine in der Bild-Redaktion gängige Bermerkung über Reichelt. Allerdings deckt kress auf, daß diese dort nicht einmal dessen Intimfeinde kannten.

Was Reichelt nun verbrochen haben soll, bleibt auch zehn Monate nach der Entlassung unklar. Keine Frau hatte behauptet, daß der Sex zwischen ihr und dem Chefredakteur nicht einvernehmlich gewesen sei. Reichelt selbst hatte der Zeit gesagt: „Es gab in dem ganzen Verfahren keinen Menschen, der sich selbst als ‚Opfer‘ bezeichnet hat, auch wenn das in den Medien so dargestellt wurde.“

Auf Twitter hatte der Journalist bereits ein Gespräch mit einem Mitglied der Spiegel-Chefredaktion wiedergegeben. Demnach soll dieser gesagt haben: „Mir sind da die Hände gebunden. Ich hatte nicht die Geschäfte und habe es zu spät gesehen. Die Quellenlage ist mehr als dünn.“ Inzwischen steht auch fest, daß der Spiegel eine Szene über ein Gespräch zwischen Döpfner und Reichelt nicht korrekt beschrieben hat.

So bleibt der Verdacht, daß der einst wichtigste Mann der mächtigsten deutschen Zeitung zu unbequem war. Reichelt hatte sowohl in der Migrations- als auch in der Corona-Politik stets gegen den Strich gebürstet. Entsprechend empört geben sich nun auch Medien über den neuen Youtube-Kanal „Achtung, Reichelt!“. Die Berliner Zeitung spricht von „Grünen-Bashing“, das mit Ängsten spiele. Und die FAZ kritisiert, Reichelt beschwöre „eine neue Form des Klassenkampfs“ und betrachte die Grünen als „das größte Problem der Gegenwart“. Der Standard in Wien nennt ihn gar einen „rechtspopulistischen Untergangsprediger“, der mit seinem Kanal „Vorurteile und Polemik“ verbreite und „die baldige Apokalypse“ herbeirede. 

Seit einem Monat ist Reichelt auf Sendung. Seine Show ist boulevardesk, seine Rhetorik volkstümlich. Damit hat er inzwischen 114.000 Abonnenten gewonnen. Die Themen sind durchweg politisch. Und Reichelt macht sie gewohnt knallig auf: Vergangene Woche hieß ein Beitrag „Grüne verlangen allen Ernstes: Deutsche sollen im Müll wühlen // Grüne wollen Bananen-Stasi“. Diese Sendung erreichte über 447.000 Zuschauer.

Auch bei den anderen Themen dürfte sich die woke Journalistenblase mit Grausen abwenden: „Videobeweis: So lügt Lauterbach“ sahen sich 284.000 Menschen an. Die Sendung „Freibad-Alarm im Sommer 2022: Ich will Badespaß ohne Islamisten“ schauten 149.000. Rekordverdächtig ist die Folge mit dem Titel „Volksaufstände – Baerbock fürchtet die eigenen Bürger“ und mehr als 370.000 Aufrufe.

Reichelt sagt, er wolle mit der Sendung „über das sprechen, was Menschen wirklich bewegt, ohne auf all das hineinzufallen, was Politiker uns erzählen, um ihre Agenda durchzusetzen“. Er macht also das, was er bei Bild tat und was kritischer Journalismus tun sollte, nämlich: „Wir wollen furchtlos und respektlos über das sprechen, was in unserem Land passiert.“ Genau das ist auch Schulers Intention beim Weggang von Bild. Der muß allerdings noch warten, bis seine halbjährige Kündigungsfrist endet.

 www.youtube.com/c/AchtungReichelt