© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Ärzte, die Eid und Auftrag verrieten
Vor 75 Jahren wurden im Nürnberger Ärzteprozeß die Urteile gesprochen / Einige Angeklagte dienten später den Alliierten
Thomas Schäfer

Der bereits in der Antike formulierte Eid des Hippokrates stellt längst nicht mehr die einzige ethisch-moralische Richtschnur für das medizinische Handeln dar. So existiert inzwischen auch noch die im September 1948 auf der 2. Generalversammlung der World Medical Association (WMA) verabschiedete Genfer Deklaration, welche unter anderem Teil der Musterberufsordnung für deutsche Ärzte ist. Dazu kommt die ebenfalls auf Betreiben der WMA auf den Weg gebrachte Deklaration von Helsinki vom Juni 1964. Diese gibt „Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“ vor und basiert ihrerseits auf dem Nürnberger Codex von 1947.

Hierbei handelt es sich um eine normativ gemeinte Stellungnahme der Richter im Nürnberger Ärzteprozeß, die in die Urteilsbegründung einfloß und definiert, wie ein „zulässiger medizinischer Versuch“ gestaltet sein müsse. Darin heißt es ganz unmißverständlich: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich“, wobei diese nicht aus „Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeiner anderen Form der Überredung oder des Zwanges“ resultieren dürfe. Des weiteren sind Experimente an Menschen, bei denen „von vornherein mit Fug angenommen werden kann, daß sie zum Tod oder einem dauernden Schaden führen“, ein absolutes Tabu. Derlei Regelungen, welche in jüngster Zeit vor allem von Kritikern der Erprobung und Verabreichung der Corona-Vakzine wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt worden sind, waren eine Reaktion auf die Menschenversuche in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, bei denen es zahlreiche Tote gegeben hatte.

Für ihre aktive Mitwirkung an der Planung oder Durchführung solcher Experimente sowie auch wegen ihrer Rolle bei der Organisation der Ermordung von rund 200.000 Behinderten und Kranken im Zuge des NS-Euthanasieprogramms mußten sich ab dem 9. Dezember 1946 auf Initiative des Office of the US Chief of Counsel for War Crimes (OCCWC) 23 ehemalige Angehörige der SS, Waffen-SS und Wehrmacht beziehungsweise Vertreter der NS-Ärzteschaft im ersten von insgesamt zwölf Nachfolgeprozessen zu dem inzwischen abgeschlossenen Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß verantworten. Das Verfahren fand vor dem US-amerikanischen  Military Tribunal I statt und wurde von Walter Beals, Oberster Richter am Supreme Court des US-Bundesstaates Washington, geleitet. Am 20. August 1947, also vor nunmehr 75 Jahren, verkündeten Beals und dessen Beisitzer Harold Sebring aus Florida und Johnson Crawford aus Oklahoma nach 139 Verhandlungstagen das Urteil über die angeklagten Mediziner, Juristen und Verwaltungsfachleute.

Die Todesstrafe erhielten der führende Organisator der Euthanasie-Aktion Viktor Brack, der sowohl für die Kranken- und Behindertenmorde als auch die Menschenversuche in den Konzentrationslagern maßgeblich mitverantwortliche Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt, der persönliche Referent des Reichsführers SS Rudolf Brandt, der Oberste Kliniker beim Reichsarzt SS und Polizei Karl Gebhardt, der Buchenwalder Lagerarzt Waldemar Hoven, der Chef des Hygiene-Instituts der Waffen-SS Joachim Mrugowsky und der Direktor des Instituts für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung im SS-Ahnenerbe Wolfram Sievers. Diese sieben wurden dann am 2. Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Nummer eins in Landsberg am Lech gehängt.

Hingegen fielen die Strafen für die anderen Angeklagten am Ende deutlich glimpflicher aus: Gebhardts Assistenzarzt Fritz Fischer, der Chef des Sanitätsamts der Waffen-SS Karl Genzken, der Heeres-Sanitäts-Inspekteur Siegfried Handloser, der stellvertretende Präsident des Robert-Koch-Instituts Gerhard Rose und der Leiter des Sanitätswesens der Luftwaffe Oskar Schröder sollten zunächst lebenslang in Haft. Jedoch verfügt der US-Hochkommissar in Deutschland, John Jay McCloy, 1951 eine Reduzierung des Strafmaßes, so daß diese fünf Verurteilten sämtlich bis 1955 freikamen. Noch früher entlassen wurden der Abteilungsleiter am Luftfahrtmedizinischen Institut Hermann Becker-Freyseng und die Ravensbrücker Lagerärztin Herta Oberheuser (beide erhielten zunächst jeweils 20 Jahre Freiheitsentzug), der Stabsarzt der Luftwaffe Wilhelm Beiglböck (15 Jahre) und der Leitende Arzt im SS-Rasse- und Siedlungshauptamt Helmut Poppendick (10 Jahre).

US-Amerikaner verschonten  einige Täter aus Eigeninteresse

Hinsichtlich der restlichen sieben Angeklagten entschieden die Richter auf Freispruch mangels Beweisen. Im Falle des stellvertretenden Reichsgesundheitsführers Kurt Blome kam dabei der Verdacht auf, der Urteilsspruch resultiere aus dem starken Interesse der Westalliierten an den Forschungsergebnissen des Biowaffenexperten Blome. Und tatsächlich verpflichteten die USA und Großbritannien ihn nach dem Prozeß zur Mitwirkung an mehreren Geheimprojekten, deren Unterlagen bis heute gesperrt sind. Ebenso fällt auf, daß die gleichfalls freigesprochenen Luftwaffenärzte Konrad Schäfer und Siegfried Ruff, denen anfangs eine Beteiligung an den Menschenversuchen im KZ Dachau zur Last gelegt wurde, später für die United States Air Force (USAF) beziehungsweise das Aero Medical Center der US Army in Heidelberg arbeiteten. In der letztgenannten Einrichtung nahm Ruff dann schließlich sogar die Unterdruckkammer wieder in Betrieb, in der 1942 um die achtzig Häftlinge zu Tode gebracht worden waren.

Der Umgang mit Blome, Schäfer und Ruff erinnert an die Verfahrensweise mit den etwa 3.600 japanischen Biowaffenexperten der berüchtigten „Abteilung für Epidemieprävention und Wasserversorgung der Kwantung-Armee“ alias Manshū dai-731 butai unter dem Kommando von Generalleutnant Ishii Shirō, welche mehrere Großversuche mit Pest- und Milzbrandbakterien unter Inkaufnahme Tausender Opfer vorgenommen hatten, aber Straffreiheit genossen, weil sie ihre Forschungsergebnisse bereitwillig an die USA weitergaben. 

Foto: SS-Arzt Karl Brandt bei der Urteilsverkündung: Für Euthanasie verantwortlich