© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Markt erobert Wissenschaft
Eine Studie zur Ökonomisierung der Max-Planck-Gesellschaft in den 1990er Jahren
Dirk Glaser

Im Rahmen dessen, was üblicherweise in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte verhandelt wird, die im weitesten Sinne politische Historie der letzten hundert Jahre, nimmt sich das Thema, dem sich Ariane Leendertz (Bayerische Akademie der Wissenschaften) widmet, auf den ersten Blick etwas abseitig aus: „Die Max-Planck-Gesellschaft [MPG] und die Ökonomisierung der Wissenschaft seit den 1990er Jahren“ (2/2022). Tatsächlich führt Leendertz aber vor, wie ein überschaubares Kapitel Wissenschaftsgeschichte den Transformationsprozeß der Globalisierung spiegelt, dem Politik und Gesellschaft nicht nur der Berliner Republik seit dreißig Jahren unterworfen sind. 

Unter dem sprachlich unschönen Begriff Ökonomisierung versteht Leendertz im engeren Sinne einen Prozeß der „Vermarktlichung“: Dinge und Güter verwandeln sich zu Waren und erhalten einen Preis, zu dem sie auf einem Markt gehandelt werden. Menschen agieren auf diesem von Konkurrenz beherrschten Markt als Käufer und Verkäufer. Dabei richten sie ihr Handeln auf die Steigerung von Gewinn und Profit, auf Effizienz und Produktivität im Sinne einer „möglichst günstigen Ratio zwischen Kosten und wirtschaftlichem Output“ aus. In gebotener Kürze seien damit die „allgemeinen Kennzeichen des ökonomischen Feldes einer kapitalistischen Marktwirtschaft“ beschrieben. Ein breiteres Verständnis von Ökonomisierung komme hingegen im Begriff der Quasi-Märkte zum Ausdruck. Wo es bis zur Wiedervereinigung keinen echten Markt mit echten Waren gegeben hat – wie im deutschen Hochschulsystem oder in der öffentlichen Verwaltung – wurde einer geschaffen. 

„Erkenntnissuche um ihrer selbst willen“ hatte großen Stellenwert

Für Globalisierungskritiker stellt eine solche Ausdehnung des Ökonomischen auf nichtökonomische Teilsysteme des gesellschaftlichen Gesamtsystems den „Kern der neoliberalen Transformation“ dar. Entsprechend drang das Modell des Marktes als Ordnungs- und Handlungsmodell mit den dazu passenden ökonomischen Termini, Werten und Praktiken seit 1990 mit hohem Tempo tief in die ihm wesensfremden Sphären von Politik, Staat, Verwaltung, Recht, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Erziehung vor. Mit Hilfe aus der Betriebswirtschaft übernommener Meß-, Bewertungs- und Evaluationstechniken würden die Akteure auf diesen Handlungsfeldern zu „marktähnlichem Verhalten“ gezwungen. Zugrunde liege dieser Entwicklung die politisch geförderte Durchsetzung zweier neoliberaler Axiome: 1. Der freie Markt ist die optimale und überlegene Form gesellschaftlicher Organisation und Handlungskoordination, 2. der Mensch ist ein primär ökonomisch orientierter Nutzenmaximierer.    

Was geschieht, wenn das ursprünglich nicht an diesem primitiven Welt- und Menschenbild orientierte System Wissenschaft die Grenze zur Wirtschaft aufhebt, läßt sich anhand der jüngsten Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) unter ihren Präsidenten Hubert Markl (1996–2002) und Peter Gruss (2002–2014) studieren. Leendertz beschreibt die Zäsur, die 1996 der Wechsel vom Juristen Hans Zacher zum Evolutionsbiologen Markl und die radikalisierte Fortsetzung seines neoliberalen Kurses durch den Zellbiologen Gruss bedeutete, einen „unternehmerischen Forscher“, anhand der Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Der zufolge alle Subsysteme einer Gesellschaft nicht, wie in der Systemtheorie von Niklas Luhmann, streng voneinander abgegrenzt je eigene Funktionslogiken ausbilden, sondern sich im dauernden Spannungsverhältnis zwischen ihrem autonomen Pol und externen Einflüssen befinden. 

Den autonomen Pol der Ökonomie steckt die Unterscheidung zwischen „nützlich“ und „nicht nützlich“, „profitabel“ und „nicht profitabel“ ab, während die Wissenschaft auf die Trennung von „wahr“ und „unwahr“ fixiert ist. Dieses durch Wilhelm von Humboldt begründete Auffassung von Wissenschaft, die zweckfreie, aus Sicht ihrer Kritiker „nutzlose“, Wahrheitssuche habe bis zur Amtszeit Zachers das Selbstverständnis der MPG dominiert. Wissenschaft als „Erkenntnissuche um ihrer selbst willen“ habe, wie sich an allen Nachkriegsreden ihrer Präsidenten ablesen lasse, als hoher kultureller und zivilisatorischer Wert gegolten. Die Vermehrung des Wissens als solche, durch nicht anwendungsbezogene, von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bezügen unbelastete  „Grundlagenforschung“, stellte daher stets einen „Wert an sich“ dar. 

Dies mag ein allzu illusionäres Selbstbild sein, betrachtet man nur die bis zu Humboldts Lebzeiten zurückreichende Geschichte der Technischen Hochschulen in und außerhalb Preußens sowie die Schrittmacherdienste, die die Natur- und Ingenieurswissenschaften bei der Entstehung der Industriegesellschaft oder für deren Aufrüstung in der Ära der Weltkriege leisteten. Es ist jedoch zugunsten der älteren Generation der MPG-Präsidenten, die wie der Biochemiker Adolf Butenandt ihre Karriere noch 1945 in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem MPG-Vorläufer, starteten, zu bedenken, was Leendertz’ Interpretation der Reden unterschlägt: daß  Wahrheitssuche für diese Forscher den „Zweck“ der Bildung des Menschen und damit automatisch den der Formung einer humanen Gesellschaft erfüllte. Darum müsse die Autonomie der Wissenschaft, auch wenn sie noch so prekär sei, gegen die in allen großen Industrienationen, primär in den USA, bestehende Tendenz, Forschung einseitig auf industrielle Ziele hin zu konzentrieren, verteidigt werden – eine Forderung, die Hans Zacher geradezu zum Leitmotiv seiner Präsidentschaft machte.

Seit 1998 bestimmt ökonomische Effizienz die Forschungsarbeit

Mit Markls massiv vom bis 1998 CDU-geführten Bundesministerium für Forschung und Technologie unterstützten Kurs vollzog sich fast über Nacht eine Kehrtwende um 180 Grad. Nicht freie Erkenntnissuche, sondern ökonomische Effizienz, ablesbar am Ranking und meßbar anhand des citation impacts, bestimmte seitdem die MPG-Strategie. In Markls organisatorischem Handeln, das die Zahl der unbefristeten Stellen in der MPG auf 50 Prozent festlegte, weil existentielle Unsicherheit angeblich die wissenschaftliche Kreativität anrege, wie auch in seinen Reden spiegele sich die sagenhafte Resonanz, auf die das von Hayek und Co. geprägte „marktradikale Ideenkonglomerat“ während der 1990er traf. Markls Rhetorik wimmele von ökonomischen Analogien und Begriffen wie „Humankapital“, „Menschenressourcen“, „Kosteneffizienz“, „Optimierung“, „wertschöpfende Innovation“. 

Eingebunden sei diese Meistererzählung von den „hohe Renditen“ versprechenden „Forschungsinvestitionen“ in die Drohkulisse eines „Niedergangs- und Katastrophendiskurses“, der Deutschland vor die simple Wahl stellte, entweder als High-Tech-Land am globalen Wettbewerb, am damals schon als nicht nachhaltig geschmähten Rattenrennen um die Plünderung des Planeten und die Ausbeutung des Menschen teilzunehmen oder allen daraus generierten „Wohlstand“ zu verlieren. Wobei „Wohlstand“, wie das vor 1914 der modernekritische Diskurs zum Triumph der Mittel über die Zwecke beklagte, als neuer Selbstzweck an die Stelle des Selbstzwecks einer durch Wissenschaft ermöglichten humanen Kultur tritt. Die weiteren harten Konsequenzen der Ökonomisierung, besonders für die Geistes- und Sozialwissenschaften, hat Leendertz mit dem Hinweis auf deren „Marginalisierung“ allerdings kaum angedeutet: die Ersetzung  der Orientierung an „wahr“ – „unwahr“ durch „nützlich“ – „unnütz“ hat viele dieser Disziplinen seit der Bologna-Reform zu willfährigen Dienstleistern für die Politik erniedrigt.  www.ifz-muenchen.de/vierteljahrshefte