© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/22 / 19. August 2022

Nicht anfassen!
Innerhalb von Tagen rafft ein neuer Vogelgrippe-Stamm ganze Brutkolonien dahin
Martina Meckelein

Kadaver liegen stinkend im Sand. Die gefiederten Klumpen waren einmal Lachmöwen, Brandseeschwalben, Baßtölpel. Verhungernde Küken hocken neben ihren verwesenden Elterntieren. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit spielt sich in den Brutkolonien des Wattenmeeres der Nordseeküste, aber auch an der Ostsee auf Rügen ein monströses Drama ab: Tausende von Seevögeln sterben an der Aviären Influenza (HPAI), besser bekannt als Geflügelpest oder Vogelgrippe. Noch niemals brach die tödliche Infektionskrankheit während der Brutsaison aus. So trifft das Virus Populationen doppelt, die ohnehin schon auf der Roten Liste bedrohter Arten stehen.

„Seit dem 06.01.2022 wurden in Deutschland 934 HPAIV-H5N1-infizierte Wildvögel und 31 Ausbrüche bei Geflügel und gehaltenen Vögeln gemeldet“, berichtet am 8. Juli 2022 das Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit (FLI). In seiner Risikoeinschätzung heißt es: „Trotz eines deutlichen Rückgangs im Laufe des Frühjahrs 2022 erfolgen nach wie vor Nachweise des HPAI-Virus an den Küsten Deutschlands und Europas mit existentiell bedrohlichen Populationseinbrüchen bei koloniebrütenden Seevögeln.“

1.500 tote Jungvögel allein auf einer Hallig

Am 20. Juli berichtet das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: „Allein im Juni 2022 meldeten 13 europäische Länder über 200 HPAI-positive Wildvogelfunde. Insbesondere bei den brütenden Küstenvögeln wie Seeschwalben (Brandseeschwalben, Flußseeschwalben) werden Tausende toter Vögel in den Brutkolonien beobachtet.“ Niedersachsen kommt zum Schluß, daß ganzjährige Nachweise von HPAI-Viren im europäischen Raum „auf eine endemische Etablierung dieser HPAI-Viren schließen“ lassen. Nur fünf Tage später meldet der Nationalpark Wattenmeer am 25. Juli 2022: „Erstmalig tritt die Vogelgrippe bei Wildvögeln im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer nicht mehr nur im Winterhalbjahr, sondern auch zur Brutzeit auf. Betroffen sind vor allem Brutkolonien, wo sehr viele Vögel auf engstem Raum zusammenkommen.“

Die Nationalparkverwaltung um Michael Kruse zeigt sich bestürzt. „Anfang Juni traten die ersten toten Brandseeschwalben auf. In den Brutkolonien auf der Hallig Norderoog wurden bislang knapp 400 tote Altvögel und rund 1.500 tote Jungvögel registriert; 163 Totfunde gab es im übrigen Nationalparkgebiet außerhalb der Brutkolonien“, erklärt man der JUNGEN FREIHEIT das Infektionsgeschehen. Es sei aber nicht so, daß alle verendeten Tiere eingesammelt und untersucht werden. Allerdings ergaben die Laboruntersuchungen, die an mehreren Brandseeschwalben vorgenommen wurden, daß „die Tiere fast ausnahmslos an der Vogelgrippe erkrankt waren“.

Alarmierend sind auch die Todeszahlen der Baßtölpel. Tote Vögel wurden vor allem auf Sylt, Amrum und Föhr gemeldet. Bis zum 25. Juli, so der Nationalpark, zählte er 319 Kadaver. Auch Helgoland meldet Sichtungen. Es ist je nach Meeresströmung möglich, daß die verendeten Tiere aus Großbritannien stammen, denn dort sei die Situation noch schlimmer. Der berühmte Bass Rock bietet 150.000 Brutpaaren des Baßtölpels Platz. Dort verbreite sich das Virus ebenfalls. „Auch von Nordfrankreich bis Niedersachsen sowie an der südlichen Ostsee ist die Krankheit in wichtigen Brutkolonien ausgebrochen“, meldet die Schutzstation Wattenmeer. „Insbesondere dicht gedrängt brütende Arten wie Brand- oder Flußseeschwalbe sind hiervon betroffen. Manche ihrer Kolonien erscheinen jetzt mehr oder weniger leer.“ Und das obwohl Brutzeit ist und höchste Betriebsamkeit herrschen müßte.

Doch was genau ist eigentlich Vogelgrippe? Die Infektionskrankheit wird durch Grippeviren verursacht. Den Virus tragen viele Wildvögel in sich, allerdings in einer „gering pathogenen Form“, schreibt die Max-Planck-Gesellschaft. Die Wissenschaftler nehmen an, daß diese wenig ansteckenden Viren, die für Wildvögel normalerwesie nicht tödlich sind, auf Hausgeflügel übertragen worden seien und in Massentierhaltungsbetrieben mutierten. Wenn dann Wildvögel, gerade bei in Freilandgehegen gehaltenen Hühnern, Enten und Gänsen auf Futtersuche gehen, können sie sich wiederum mit dem jetzt hochpathogenen Virus infizieren und verbreiten ihn beim Vogelzug oder bei der Brut in ihren Kolonien. 

Erkrankte Hühner beispielsweise bekommen Fieber, Atembeschwerden und Durchfall. Die höchste Viruslast findet sich im Kot der Tiere. Die Infektion kann sich in Stunden bis wenigen Tagen auf den gesamten Bestand einer Farm ausbreiten. Die Tiere werden apathisch, legen keine Eier mehr, können bereits geschlüpfte Jungvögel nicht mehr ernähren und sterben in einem Großteil der Fälle, sofern sie nicht vorher gekeult werden.

Nur unter Vollschutzanzügen dürfen sich Experten den Kadavern nähern und sie einsammeln.  Die Gefahr, das Virus durch unbedachte Handhabung zu verbreiten, ist extrem groß. Allerdings ist, wenn auch sehr selten, eine Übertragung von Tier auf Mensch belegt. Touristen sollen deshalb einen großen Bogen um apathisch am Strand sitzende  und tote Vögel machen. Hunde müssen angeleint sein, auch sie können sich anstecken oder die Viren weiterverbreiten. Um die Ausbreitung zu bremsen, sind strickte Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten.

Sicher ist, daß ein Teil der betroffenen Brutvogelarten den Ausbruch überleben wird. „Ob die Zahl ausreicht, um den Bestand dauerhaft zu erhalten, ist noch nicht klar“, hieß es von der Nationalparkverwaltung Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. „Das hängt davon ab, ob es weitere Sommerausbrüche oder gar ganzjährige Vogelgrippeereignisse geben wird. Sollte dem so sein, könnten einige Brutvogelarten in ihrem großräumigen Bestand gefährdet sein.“