© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

„Da habe ich doch Zweifel“
Jan Fleischhauer: Seine Linken-Schelte machte ihn zu einer Institution, früher beim „Spiegel“, heute beim „Focus“. Er warnt schon lange vor der fatalen Krise, in die Deutschland geht – und die JUNGE FREIHEIT davor, zu übertreiben
Moritz Schwarz

Herr Fleischhauer, gleich drei Ölradiatoren! Sie fühlen sich auf den Herbst gut vorbereitet?

Jan Fleischhauer: Wie heißt es: „Better safe than sorry“ – lieber auf Nummer Sicher gehen als später weinen. Wenn ich mir die Preise ansehe, die inzwischen für Heizgeräte aufgerufen werden, fühle ich mich in meiner Kaufentscheidung bestätigt.

Aber wir haben doch diese famose Ampelregierung – vertrauen Sie der nicht?

Fleischhauer: Wieso? Es ist der grüne Wirtschaftsminister, der von Alptraumszenarien spricht. Es wäre ja geradezu fahrlässig, das nicht ernst zu nehmen. 

Wie schlimm wird die Krise?

Fleischhauer: Ich bin im Beobachtungs- und nicht im Prognosegeschäft. Aber nach dem, was ich gelesen habe, ist alles möglich, bis hin zur Notabschaltung ganzer Industriezweige. Ich habe nie zu denen gehört, die für einen sofortigen Gasboykott waren. Auch damit finde ich mich an der Seite Robert Habecks wieder.

„Alles Putins Schuld!“ Stimmt das? 

Fleischhauer: In die Abhängigkeit von Moskau haben wir uns schon noch selbst begeben, allen Warnungen zum Trotz. Es waren übrigens die Grünen, die darauf hingewiesen haben, daß es keine gute Idee ist, immer mehr Gas aus Rußland zu beziehen. Allerdings hat dann die grüne Energiewende die Dinge noch schlimmer gemacht, weil wir ja parallel zur Kernkraft unbedingt aus der Kohle aussteigen wollten, womit nur Gas als grundlastfähiger Energieträger übrigblieb. Diese Verblasenheit durchzieht die ganze Energiepolitik. Ich würde immer davon ausgehen, daß jemand, der Giftgas auf Kinder regnen läßt, kein Problem damit hat, den Gashahn zuzudrehen, wenn er meint, daß ihm das nutzt. Es ist ja auch nicht so, daß Putin sein Gas nie als Waffe eingesetzt hätte. Er hat das laufend gemacht: im Baltikum, in Weißrußland, in der Ukraine. Aber irgendwie haben wir uns eingebildet, bei uns Deutschen, da würde er sich selbstverständlich an alle Zusagen halten.

„Ah, der Volksaufstand, die neue deutsche Obsession!“

Sie haben vorgeschlagen, im Notfall zuerst Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier das Gas abzudrehen. 

Fleischhauer: Ich gebe zu, daß mein Vorschlag etwas populistisch war. Auch ich greife manchmal zu den niedrig hängenden Früchten. Ich habe mich geärgert, daß kaum noch die Rede davon ist, wie wir in diese vermaledeite Lage geraten sind. Angela Merkel hat beschlossen, daß sie nur noch Wohlfühltermine macht, wo sie dann, bittschön, nicht mehr mit unangenehmen Fragen behelligt werden möchte. Frank-Walter Steinmeier, der Architekt der deutschen Rußlandpolitik, sagt, er habe sich in Putin getäuscht, so wie alle anderen. Nein, es haben sich nicht alle getäuscht. Es gab hellsichtige Menschen, die schon vor dem Überfall auf die Ukraine genau darlegen konnten, warum wir es bei Putin mit einem Postfaschisten zu tun haben. In Berlin hat man es nur vorgezogen, auf diese Leute nicht zu hören. 

In Ihren Kolumnen sprechen Sie immer so schön humorig über diese Dinge. Aber ist das angemessen? Denn selbst wenn es „nur“ bei Inflation und explodierenden Kosten bleibt, werden viele Deutsche in Not geraten, manche Arbeit oder Wohnung verlieren, andere ihr Lebenswerk, das sie in Jahrzehnten aufgebaut haben. Etliche werden daran sterben, weil Angst und Druck Beschleuniger für Herzkreislauferkrankungen sind, und einige werden sich erfahrungsgemäß das Leben nehmen. 

Fleischhauer: Für Humor ist nie die richtige Zeit. Irgendwo passiert immer etwas Schreckliches. Entweder ertrinken im Mittelmeer Hunderte Flüchtlinge, oder in Frankreich tobt eine Feuersbrunst, oder Afrika wird gerade von einer verheerenden Dürre heimgesucht. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß der Humor dort zu enden hat, wo Deutsche betroffen sind. Das wäre allerdings eine humormoralische Erweiterung, über die man länger diskutieren müßte. Ich sehe Humor als Mittel der Aufklärung. Auch Spott kann eine scharfe Waffe sein. Fragen Sie mal Friedrich Merz, wie witzig er es findet, wenn ich mich über ihn lustig mache. Die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie ist bei Politikern eher gering ausgeprägt. 

Jüngst haben Sie über die Angst vor Volksaufständen im Herbst geschrieben. Werden die kommen?

Fleischhauer: Ah, der Volksaufstand, die neue deutsche Obsession! Kaum kommt der Gasnotstand, droht in uns wieder der Nazi durchzubrechen. Das ist diese Nancy-Faeser-Idee vom rückfallgefährdeten Bürger, der sofort gemeinsame Sache mit den Rechtsradikalen macht, wenn es eng wird. Sollten die Menschen im Herbst wegen der Energiepreise auf die Straße gehen, dann ist das zunächst einmal nicht rechts, würde ich sagen, sondern ihr gutes Recht. Ob das dann die Form von Volksaufständen annimmt? Da habe ich doch Zweifel. Ich glaube, daß die meisten in Deutschland die Kalamität sehen, in der die Regierung steckt. Daß Olaf Scholz und seine Leute nicht in der Lage sind, alle Mehrkosten auszugleichen, dafür gibt es Verständnis. Gegen die Politik, die einem Gangster wie Putin die Pistole in die Hand gedrückt hat, die er uns nun an die Schläfe hält, hätte man vor Jahren auf die Straße gehen müssen. Jetzt ist es dafür zu spät. Man kann weder die Energiewende einfach abschalten noch die alte Energieversorgung wieder anschalten. Wobei: „Atomkraft, ja bitte“ – das wäre mal eine Kampagne, bei der ich mich sogar einreihen könnte.

„Oh mein Gott, die Demokratie ist in Gefahr“

Wenn Volksaufstände also wohl eher nicht drohen, warum dann neulich Faesers scharfe Reaktion?

Fleischhauer: Vielleicht weil da schon wieder die Falschen auf die Straße zu gehen drohen? Demonstrieren gilt immer dann als Tugend, wenn für die richtige Sache demonstriert wird – also gegen den Klimawandel, gegen Sozialabbau, gegen zu hohe Mieten. Wagt sich eine nennenswerte Anzahl von Leuten für angeblich rechte Anliegen auf die Straße, heißt es: Oh Gott, die Demokratie ist in Gefahr! Das war ja für viele Linke schon an Pegida das Schreckensmoment: Demonstrieren ist doch unsere Protestform, und nun kommen die Rechten und machen uns alles kaputt!

Im Juli sagte Faeser dem „Handelsblatt“: „Natürlich besteht die Gefahr, daß jene, die schon bei Corona ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oft Seit an Seit mit Rechtsextremisten unterwegs waren, stark steigende Preise als neues Mobilisierungsthema zu mißbrauchen versuchen.“ Wie gefährlich ist die darin zum Ausdruck kommende Haltung?

Fleischhauer: Na ja, „gefährlich“. Was ist schon gefährlich? Was will Frau Faeser denn tun, wenn gegen steigende Energiepreise protestiert wird? Zur Strafe die Heizung bei den Demonstranten stillegen? Corona hat gezeigt, daß Demos auch dann stattfinden, wenn sie in Berlin unglücklich darüber sind und mahnend die Stimme erheben, besser zu Hause zu bleiben.

Aber ist das nicht eine totalitäre Geisteshaltung, die die Innenministerin da offenbart?

Fleischhauer: Das ist nicht totalitär – das ist dusselig. 

„Du liebe Zeit, geht’s nicht auch eine Nummer kleiner?“

Sicher werden die meisten Demos stattfinden, weil wir noch ein Rechtsstaat sind. Wenn aber Faeser und auch andere in Machtpositionen könnten, wie sie wollten ... 

Fleischhauer: Ja, wenn – können sie aber nicht. Ich war neulich zu einem Vortrag in Erding eingeladen. In der Fragerunde stand jemand auf und bezeichnete das Bundesinnenministerium als „Reichssicherheitshauptamt“. Klar, sagte ich mir, und wir sind alle Sophie Scholl. Du liebe Zeit, denke ich manchmal, geht’s nicht auch ’ne Nummer kleiner?

Demokratie setzt die Anerkennung der Legitimität anderer Meinungen voraus. Frau Faeser hat mit ihrer Aussage vergangene Corona- und mögliche künftige Demonstrationen in einen Zusammenhang mit Rechtsextremismus gestellt und den Protest der Bürger als „herausgebrüllte Verachtung gegen die Demokratie“ denunziert. Was, wenn nicht das – die Aberkennung der Legitimität anderer Meinungen –, ist denn dann eine totalitäre Geisteshaltung? 

Fleischhauer: Es ist im Meinungskampf ein beliebter Trick, alle, die einem nicht passen, zu Figuren zu erklären, die außerhalb des Verfassungsbogens stehen. Funktioniert übrigens in beide Richtungen. Denken Sie an die G20-Proteste, wo jeder, der eine antikapitalistische Parole auf den Lippen trug, unter Antifa subsumiert wurde. Was Demonstrationen angeht, halte ich mich an eine einfache Regel: Ich schaue mir an, wer mitläuft. Wenn Plakate „Free Palestine – from the river to the sea“, also die Forderung nach dem Ende Isarels, oder so ein Reichsbürgerzeug hochgehalten würden, wäre ich raus. Da wäre ich wählerisch. Deshalb bin ich vermutlich auch seit Jahr und Tag auf keiner Demo mehr mitgelaufen.  

„Da werden Sie zum Opfer Ihrer eigenen Steckenpferde“ 

Es gibt keine größere politische Demonstration, gleich welcher Couleur, auf der nicht auch Spinner und Radikale mitlaufen. Worum es geht, ist, daß Frau Faeser allen Demonstranten Extremismus unterstellt.

Fleischhauer: Ich denke, Frau Faeser macht eher eine unglückliche Figur. Sie will mit kessen Sprüchen ihre Basis beeindrucken. Wie ich gelesen habe, will sie im nächsten Jahr Spitzenkandidatin der SPD bei der Landtagswahl in Hessen werden. Wenn Sie Glück haben, werden Sie also bald erlöst sein. Andererseits: Be careful what you wish for! Man lebt als Journalist auch von seinen Feindbildern. Wenn statt Nancy Faeser dann eine total durchschnittliche, politisch absolut unauffällige SPD-Amsel ins Innenministerium einzieht, haben Sie mit Zitronen gehandelt. Wovor wollen Sie sich dann fürchten? 

Von dem verstorbenen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der berühmte Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und der Grund für den Untergang der Weimarer Republik wird oft in der Formel „Demokratie ohne Demokraten“ zusammengefaßt. Fazit: Ein freiheitliches, demokratisches System allein reicht nicht – es bedarf freiheitlicher, demokratischer Menschen. Deshalb als Antwort auf Ihre Frage die Gegenfrage: Sie sehen nicht, daß uns Gefahr droht, da immer mehr Jugendliche mit einem neuen, antidemokratischen „Demokratie“-Begriff erzogen werden? 

Fleischhauer: Nee, sehe ich nicht. Was gibt Ihnen denn zu der Vermutung Anlaß? 

Daß eine neue Definition von Demokratie überall auf dem Vormarsch ist: in der Jugendkultur, den Medien, der Politik, den gesellschaftlichen Institutionen etc. 

Fleischhauer: Wer den Hammer in der Hand hält, sieht bekanntlich überall Nägel.   

Immer mehr gelten als Ausweis von Demokratie „Kampf gegen rechts“, gegen „Rassismus“, „Islamophobie“, „Verschwörungstheoretiker“ und für Gender und Diversity – und nicht mehr wie früher für Meinungsfreiheit, Pluralismus, Opposition. 

Fleischhauer: Ich fürchte, Sie werden da zum Opfer Ihrer eigenen Steckenpferde. Ich weiß, daß Ihr bei der JUNGEN FREIHEIT ständig „Funk“ schaut, die Jugendausgabe des ZDF, oder, als es das noch gab, Bento inhaliert habt, das Jugendmagazin des Spiegel, und Ze.tt, das Pendant der Zeit. Wenn ich diese Medien den ganzen Tag vor Augen hätte, würde ich auch zum Schluß kommen, daß Deutschland dem Untergang geweiht ist. Selbstverständlich wird dort gegendert, daß die Schwarte kracht, non-binär ist längst durch non-trinär ersetzt, und wer nur normalen Geschlechtsverkehr hat, gilt schon als Rassist. Aber: Bento und Ze.tt sind wegen chronischer Erfolglosigkeit eingestellt, und bei „Funk“ wäre das nicht anders, würde es nicht von den Öffentlich-Rechtlichen künstlich am Leben gehalten. Also, liebe Leute, entspannt Euch, wäre mein Rat. Kaum ein Mensch, der bei klarem Verstand ist, guckt das. 

Es reicht, wenn die kleine Kohorte der kommenden Generation es guckt. Irgendwann geht die Saat auf.

Fleischhauer: Den Satz kenne ich irgendwoher. Hieß der nicht früher: „Das Fernsehen verdirbt unsere Jugend!“? Die Wahrheit ist: Die Mehrheit der nachrückenden Generation lehnt Gendern ab und ist auch ansonsten für viele Fortschrittsprojekte nicht zu haben. Neulich gab es eine Jugendsendung im BR-Fernsehen, in der nun wirklich alles getan wurde, um für das Gendern zu werben. Anschließend Zuschauerabstimmung. Der Anteil derjenigen, die sich gegen das neue inklusive Sprechen aussprach, war noch größer als zu Beginn der Sendung. Das ist ja das Problem an diesen ganzen linken Programmen: Sie funktionieren nur in geschlossenen Anstalten, also Redaktionsräumen, Hochschulen und Verwaltungseinrichtungen. Sobald man damit ins normale Leben tritt, scheitert man bei der Umsetzung kläglich. 


Jan Fleischhauer: Mit dem Bestseller „Unter Linken. Von einem, der aus Versehen konservativ wurde“ (2009) und seiner Kolumne „Der schwarze Kanal“ wurde der 1962 in Osnabrück geborene Spiegel-Journalist bekannt. 2019 wechselte er nach dreißig Jahren zum Focus. 2020 erschien sein Buch „How dare you. Vom Vorteil, eine eigene Meinung zu haben, wenn alle dasselbe denken“ und schon 2017 sein Roman „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“.