© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Wenn die Falschen demonstrieren
„Heißer Herbst“: Sowohl die Linke als auch die AfD rufen zu Protesten auf
Jörg Kürschner

Die kalte Jahreszeit rückt näher, und damit verstärkt sich der Argwohn der etablierten Parteien, die Bürger könnten ihnen angesichts von Energiekrise, Lebensmittelpreisen auf Rekordhöhe sowie einer möglichen Gasumlage einen heißen Herbst bereiten. Am Ende ihrer Sommerferien sehen sich die Menschen mit Vorwarnungen der Politik konfrontiert, ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit politisch korrekt wahrzunehmen, sich von „antidemokratischen Protesten“ fernzuhalten. 

Obendrauf geben die Grünen fleißig Tips zur Körperpflege unterhalb der Gürtellinie. So riet Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Waschlappen, denn „man muß nicht dauernd duschen“. Den Tiefpunkt der Debatte markierte Berlins Umweltsenatorin Bettina Jarasch. „Ich mache morgens nur Katzenwäsche.“ Im morgendlichen Wettbewerb mit Ehemann und Söhnen.

Auch der Verfassungsschutz mobilisiert für den Winter

Dagegen konzentrierte sich Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) auf die Wirklichkeit außerhalb häuslicher Badezimmer und forderte die Bürger auf, bei Demonstrationen darauf zu achten, daß sie nicht etwa Aktivisten aus der „sehr rechten Ecke auf den Leim“ gingen. Ihr Generalsekretär Kevin Kühnert war offenbar noch geschockt von den wütenden Protesten während einer Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Neuruppin. 

Dort hatten sowohl die Linke als auch die AfD zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Kühnert verlangte, Protestmärsche zu verlassen, bei denen „Antidemokratisches“ gerufen werde, wie „Volksverhetzer“, „Lügner“ und „Hau ab“. Während sich Scholz nur mühsam Gehör verschaffen konnte, blieb Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) beim Wahlkampfauftakt in Hannover gelassen. Zahlreiche SPD-Anhänger stellten sich „Querdenkern“ entgegen, die daraufhin abzogen. 

In Berlin skandierten knapp hundert junge Menschen vor der FDP-Parteizentrale: „Ganz Berlin haßt die FDP“ und forderten den Rücktritt von Bundesfinanzminister Christian Lindner.

Auf Einschüchterungen der Bürger setzt auch die CDU. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul warnte vor „neuen Staatsfeinden“, mußte aber einräumen, daß das Protestpotential verglichen mit den Corona-Maßnahmen nicht größer geworden sei. Die Polizei bereite sich auf einen möglichen Protestwinter mit gewalttätigen Demonstrationen vor. Auch die den Innenministern unterstehenden Verfassungsschutzämter mobilisieren: Das Bundesamt hat eine „phänomenbereichsübergreifende Sonderauswertung“ gegründet. In dieser Sondereinheit arbeiten Fachleute aus verschiedenen Bereichen, wie Rechts- und Linksextremismus, verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und Spionageabwehr, zusammen. Im Visier haben die Verfassungsschützer nicht nur die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise, sondern auch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg.

Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer (SPD) verschärfte die öffentliche Debatte noch. Er befürchtet, daß die bisherigen Coronaproteste im Vergleich wie ein „Kindergeburtstag“ aussehen werden. Extremisten könnten im Herbst legitime Proteste kapern. Sozialwissenschaftler sprechen von fest etablierten Protestmilieus in Ostdeutschland, insbesondere in Sachsen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte gar vor „Volksaufständen“. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) widersprach indirekt, zeigte sich aber sensibel: „Die Gerechtigkeitsfrage ist entscheidend, damit das Land in dieser Krise zusammen bleibt.“  Nach dem Verständnis der etablierten Parteien sind AfD und Linke Extremisten, die legitime Proteste für eigene politische Ziele mißbrauchen.

Linken-Co-Chef Martin Schirdewan kündigte einen „heißen Herbst der sozialen Proteste“ an, auch neue „Montagsdemos“ seien möglich. Geplant ist ein bundesweiter Aktionstag am 5. September, einem Montag. Nach dem innerparteilichen Dauerstreit wittern die SED-Nachfolger Morgenluft. „Wir machen das zu einem zentralen Thema“, gab sich Parlamentsgeschäftsführer Jan Korte optimistisch: „Das ist eine Chance für unsere Partei.“ Die Regierung könne sofort die Preise deckeln und eine Übergewinnsteuer einführen, um Entlastungen zu finanzieren, argumentiert die Linke.

Parteifreund Bodo Ramelow plagen hingegen politische Bauchschmerzen. Der thüringische Ministerpräsident mahnte, „die Abstandsregeln zu rechtsradikalen Organisatoren“ zu beachten. Es müsse vermieden werden, daß man mit „Pegidisten“ oder „Auslandsfeinden mit Rußlandfahnen“ durch die Nacht laufe. Man dürfe doch den sozialen Protest nicht den Rechten überlassen, konterte Schirdewans Co-Chefin Janine Wissler. 

Und die AfD? „Heißer Herbst statt kalter Füße – unser Land zuerst!“ lautet das Motto ihrer Kampagne. Die Landtagsfraktion in Magdeburg ruft zu einer Montagsdemo auf – ebenfalls am 5. September. Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke kündigte Protestaktionen ab Mitte September im Freistaat an. Aufmerksam wurde auch auf Bundesebene registriert, daß die vielbeschworene „Brandmauer gegen rechts“ bröckelt. Im sächsischen Schneeberg wandten sich AfD, CDU, Freie Wähler und Linke in einem gemeinsamen, auch von der lokalen Wirtschaft unterstützten Schreiben an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). 

Durch die Gasumlage nehme die Entwicklung „bedrohliche Ausmaße“ an, beklagte der Initiator des „Hilferufs“, Bürgermeister Ingo Seifert. Der AfD-Sozialpolitiker René Springer warf der Bundesregierung eine „Gefährdung des sozialen Friedens“ vor. Nötig seien massive Steuersenkungen auf Energieprodukte, der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 und eine Beendigung der Wirtschaftssanktionen, „die die russische Führung nicht beeindruckten, während deutsche Bürger und Unternehmen unter die Räder kämen.“ Ein weiteres Entlastungspaket sei geplant, verspricht unterdessen Scholz.