© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Alles andere als Frau Antje
Organisierte Kriminalität: Banden von marokkanischstämmigen Holländern sprengen Geldautomaten in Deutschland
Christian Schreiber

Es passiert in aller Regel nachts und schreckt die umliegenden Bewohner aus dem Schlaf. Immer häufiger ist am nächsten Morgen von einem Polizeieinsatz aufgrund eines gesprengten Geldautomaten die Rede. Sicherheitsbehörden sind alarmiert, denn fast jede Nacht knallt es an einem anderen Ort in der Republik. Zwar waren die Zahlen des vergangenen Jahres im Vergleich zum Vorjahr leicht rückläufig, doch die Anzahl der vollendeten, sprich erfolgreichen Taten ist sprunghaft angestiegen. „In 287 Fällen führten die Täter erfolgreich eine Explosion herbei, in lediglich 105 Fällen wurde die beabsichtigte Sprengung nicht ausgelöst“, heißt es im Lagebild das Bundeskriminalamts für 2021. Waren es früher teilweise Auswüchse von Vandalismus oder dilettantisch ausgeführte Taten von Einzeltätern, sehen die Behörden längst organisierte Banden am Werk. 

Betroffen sind hauptsächlich die Bundesländer Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen und Nord-

rhein-Westfalen. Und die Spur der Täter führt in die Niederlande. Die Ermittlungen des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen ergaben, daß die Täter überwiegend aus Gruppen von Niederländern mit marokkanischen Wurzeln stammen, die der organisierten Kriminalität zugeordnet werden. Die Tatverdächtigen leben vorwiegend in und um Utrecht, Rotterdam und Amsterdam. Die niederländische Polizei schätzt den Kreis auf rund 500 bis 700 Personen. „Bei einer Tätergruppierung in dieser Größenordnung handelt es sich nicht mehr um eine leicht überschaubare geschlossene Täterstruktur, zumal die Szene durch ständige Rekrutierung und Erweiterung wächst und wechselt“, teilt das zuständige LKA mit. Auf der Frühjahrssitzung der Innenministerkonferenz kündigte Niedersachsens Ressortchef Boris Pistorius (SPD) eine Initiative im Kampf gegen die stetig zunehmenden Geldautomaten-Sprengungen an. Die Bundesländer müßten enger zusammenarbeiten, forderte der Sozialdemokrat. 

Banken bauen zum Ärger der Kunden Automaten ab

Die Auswahl der Tatorte ist dabei kein Zufall. Die Autobahnen im Südwesten, Westen und Nordwesten der Republik sind gut ausgebaut, die Täter schnell in einem anderen Bundesland. Mitte Juli sprengten bisher unbekannte Täter beispielsweise zwei Automaten im nördlichen Saarland. Ein mögliches Fluchtfahrzeug wurde wenig später auf der Autobahn Richtung Rheinland-Pfalz gesehen. Von dort ist man in nicht einmal einer Stunde in Luxemburg oder Belgien. Meistens verliert sich da die Spur. 

Denn nach der Tat flüchten die Kriminellen bevorzugt mit gestohlenen teuren und vor allem PS-starken Autos. Dabei lenken sie ihre Fluchtfahrzeuge extrem rücksichtslos und nehmen bewußt die Gefährdung anderer in Kauf, teilte das nord-rhein-westfälische LKA mit. In Rheinland-Pfalz waren die Beamten den Tätern auf der Spur, doch die hätten um ein Haar einen Polizisten überfahren. „Sie sind skrupellos und schrecken auch vor Menschenleben nicht zurück“, bestätigte Nord-rhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul die Erfahrungen und fügt hinzu: „Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz aus Prävention, Repression, eine starke Zusammenarbeit mit den Banken und mehr internationale Zusammenarbeit.“

Die Tatfahrzeuge sind in aller Regel gestohlen oder mit gefälschten Papieren bei Autovermietungen gebucht worden. Eine herkömmliche Geschwindigkeitskontrolle schreckt die Automatenknacker also nicht ab. In der Vergangenheit erzielte die Kooperation mit der holländischen Polizei vereinzelt Erfolge. Doch es kam auch vor, daß die deutschen Verfolger die Spur verloren, obwohl die Kollegen jenseits der Grenze die Fahrzeuge der Täter mit einem Peilsender versehen hatten. Ganz besonderes Pech hatten jüngst die niedersächsischen Beamten. Sie witterten aufgrund der ermittelten Tatumstände eine gute Chance zur Ergreifung von Tätern und richteten eine Großkontrolle auf der Autobahn A 2, der vielbefahrenen Ost-West-Verbindung ein. So wollten sie gezielt verdächtige Fahrzeuge – hochmotorisiert, teuer, aus Holland – filzen. Ihr Pech: Die Täter kamen und sprengten kurz nach Ende der Kontrollen unweit einen Sparkassen-Automaten in Salzgitter. Sie waren von Süden über die 

A 7 gekommen und wieder geflüchtet.  

Und es sind nicht nur die Geldautomaten, die dabei zu Bruch gehen. Während die Täter in den Jahren 2015 bis 2018 fast ausschließlich mittels Gas sprengten, ist seit dem Jahr 2019 vermehrt der Einsatz von Explosivstoffen festzustellen. 2021 wurden bereits mehr als zwei Drittel der Taten in NRW mittels sogenannter „Blitzknallkörper“ begangen. Hierbei erlangten die Täter in über 50 Prozent der Fälle Zugriff auf den Bargeldbestand. 

Die im Jahr 2022 bisher erfolgten Taten wurden in fast 90 Prozent der Fälle unter Verwendung von Explosivstoffen durchgeführt. Diese Vorgehensweise ist höchst effizient und richtet hohen Sachschaden an. Immer häufiger meldet die Polizei, daß eine Bank geschlossen ist, weil tragende Gebäudewände beschädigt wurden. „Aufgrund der deutlich höheren Sprengwirkung von Explosivstoffen im Vergleich zu Gassprengungen entstehen regelmäßig hohe Schadensbilder an Gebäuden und der umliegenden Infrastruktur, mit unkalkulierbaren Gefahren für unbeteiligte Dritte sowie eingesetzte Kräfte“, heißt es in einem Lagebericht.

Mittlerweile werden Forderungen laut, die deutschen Banken sollten sich verstärkt mit den niederländischen Kreditinstituten austauschen. Als wesentlicher Schritt gilt dort das nächtliche Abschalten der Geldautomaten. So sind die meisten Geldautomaten seit Ende 2019 zwischen 23 Uhr abends und sieben Uhr morgens geschlossen. Einige viel frequentierte Geräte sind ab zwei Uhr nachts außer Betrieb. Und das komplette Herunterfahren des Systems führt offenbar dazu, daß die Täter weitaus weniger erfolgreich sind. 

In Nordrhein-Westfalen denkt man mittlerweile über einen Abbau von Automaten an sogenannten Risikostandorten nach. Viele Menschen, so argumentiert Innenminister Reul, hätten sich längst an das bargeldlose Zahlen gewöhnt. In fast allen gastronomischen Betrieben und vor allem den nachts geöffneten Clubs sei es kein Problem, bargeldlos zu bezahlen. Und wer das nicht wolle, müsse sich eben während der normalen Geschäftszeiten eindecken. 

Daß aber die Vorräume der Filialen, wo auch außerhalb der Öffnungszeiten Geld abgehoben werden kann, ganz dichtgemacht werden, bringt wiederum die Kunden auf. Sie müssen ausbaden, was Banken und Sicherheitsbehörden nicht in den Griff bekommen. Und daß die Täter aus dem Ausland gerade hierzulande zuschlagen, liegt auch an der Liebe der Deutschen zum Bargeld. Deswegen gibt es bei uns deutlich mehr Automaten.  

Unterdessen läuft vor dem Landgericht im niedersächsischen Osnabrück gerade ein Prozeß gegen zwei Mitglieder einer solchen Bande aus Holland. Die Männer im Alter von 29 und 36 Jahren sollen laut Anklage mitgeholfen haben, sechs Geldautomaten in Deuschland zu sprengen. Bei einer der Taten in der Grafschaft Bentheim geriet die Bankfiliale in Brand, das Feuer erreichte darüber liegende Wohnungen. Deren Bewohner konnten in letzter Minute von der Feuerwehr mit Drehleitern gerettet werden. Allein der dabei angerichtete Schaden beläuft sich auf mehrere hunderttausend Euro. Werden die Angeklagten verurteilt, könnten sie für bis zu 15 Jahre ins Gefängnis müssen.