© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Blödheit, Blindheit und Herdentrieb
Thilo Sarrazin neues Buch: Der Bestsellerautor warnt vor unheilvollen ideologischen Prägungen als Gefahr für die offene Gesellschaft
Michael Paulwitz

Ökonom, Finanzpolitiker, Haushaltssanierer, Bundesbankdirektor und seit seinem 65. Lebensjahr Bestsellerautor: Thilo Sarrazin ist eine Institution für sich. Seit er vor zwölf Jahren mit „Deutschland schafft sich ab“ die erstarrende Merkel-Republik aufrüttelte, legt er mit unerschütterlicher Präzision alle zwei Jahre einen durchdachten und faktensatten Debattenbeitrag vor – zu Euro-Desaster und Tugendterror, Regierungsversagen und Islamisierung, Migration und Demographie.

„Die Vernunft und ihre Feinde“ ist das nunmehr siebte Buch in dieser Reihe – und wohl auch sein persönlichstes. Thilo Sarrazin gewährt in seiner Auseinandersetzung mit den „Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens“ in aller preußischen Zurückhaltung zugleich einen Einblick in sein Leben, seinen Werdegang und sein Denken als Wissenschaftler und Politiker. Und er zieht einen Schlußstrich unter seine Entfremdung von der SPD, die ihm im vergangenen Jahr nach fast fünfzigjähriger Mitgliedschaft endgültig den Stuhl vor die Türe gestellt hat.

Die SPD hat aufgehört, grundsätzliche Debatten zu führen 

Die SPD von heute, die einen Thilo Sarrazin nicht mehr aushalten kann, hat kaum mehr etwas gemeinsam mit jener SPD, in die der Ökonom Thilo Sarrazin als überzeugter Marktwirtschaftler und Antikommunist im November 1973 eingetreten war, gerade weil sie „eine großartige geistige Freiheit“ zu bieten hatte: „Von linken Marxisten bis zu konservativen Arbeiterführern wie Georg Leber und liberalen Großbürgern wie Klaus von Dohnanyi hatten dort alle ihren Platz.“ Die Auseinandersetzung mit den Achtundsechzigern, dem SDS und den kommunistischen K-Gruppen, deren Diskussionen er als „lächerlich und zugleich bedrohlich“ wahrnahm, bestärkten ihn in der Überzeugung, daß eine Zentralverwaltungs- und Kommandowirtschaft notwendig immer unterlegen ist. Aus dieser Einstellung hat Sarrazin nie einen Hehl gemacht.

Sein Ausschluß wegen eines Sachbuchs, ohne inhaltliche Auseinandersetzung und den Nachweis von „Denk- oder Faktenfehlern“, ist für Sarrazin folglich das „notarielle Siegel auf der schmerzlichen Erkenntnis, daß die SPD aufgehört hat, grundsätzliche Debatten zu führen, und auch nicht mehr ein Hort geistiger Freiheit ist“. Denn inzwischen haben die „Ideologen der Gleichheit“, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen letztlich Wiedergänger des Marxismus sind, die SPD, und nicht nur diese, übernommen. Die Auseinandersetzung mit der ideologisch verzerrten Denkweise dieser „Feinde der Vernunft“ gab Sarrazin – er spricht sarkastisch vom „geistigen Ertrag“ des Parteiausschlußverfahrens – den Anstoß zu seinem neuesten Buch. 

Die geistigen Waffen dafür stellen vor allem zwei Denker bereit. Zum einen Friedrich August von Hayek, der in seinem „Weg zur Knechtschaft“ schlüssig darlegt, daß die marktwirtschaftliche Ordnung der Planwirtschaft nicht nur überlegen, sondern auch eine notwendige – wenn auch, Beispiel China, nicht hinreichende – Voraussetzung für das Bestehen einer offenen Gesellschaft ist. Deren Verkünder Karl Popper ist so etwas wie Sarrazins geistiger Leitstern. Ideologen und autoritäre Regime streben geschlossene Gesellschaften an. Sie sind die Feinde der „offenen Gesellschaft“, gegen die Sarrazin mit Poppers Theorie des Kritischen Rationalismus zu Felde zieht. Deren Kern ist für Sarrazin die Erkenntnis, daß es nicht möglich ist, allein aus dem Erfahrungswissen allgemeine Urteile abzuleiten. Theorien können nicht empirisch verifiziert, als richtig bestätigt, sondern lediglich falsifiziert, das heißt als falsch widerlegt, werden. 

Für Sarrazin ist das die „schlagende Widerlegung aller deterministischen Geschichtstheorien in der Tradition von Hegel oder Marx“. Es gibt Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie, der Naturwissenschaften und des Sozialverhaltens, aber keine Theorie, nach der das Schicksal eines Gemeinwesens plan- und steuerbar wäre. Vor allem die Sozialwissenschaften sind „in weitaus höherem Maße als die Naturwissenschaften Vermutungs- und Meinungswissenschaften“ – und das begünstigt „folgenloses Spekulieren, unbegründete Meinungsstärke und das Wuchern der unterschiedlichsten Theorien und Utopien“.

Ohne Herrschaft des Gesetzes, Sicherheit des Eigentums und demokratische Ordnung mit wirksamer Kontrolle politischer Macht gibt es keine offene Gesellschaft. Sarrazin räumt mit einem verbreiteten Mißbrauch des Begriffs auf: Die offene Gesellschaft setzt die Achtung der Rechte und Entscheidungsfreiheit des einzelnen voraus. Die Hinnahme kollektivistischer Machtansprüche wie des Kopftuch-Dogmas der Islamverbände ist daher kein Zeichen einer „offenen Gesellschaft“, sondern ein Angriff auf sie. 

Autoritäre Regime und Ideologen, seien sie religiös oder politisch-marxistisch motiviert, streben „geschlossene Gesellschaften“ an, von Popper als „magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft“ definiert. Ideologisches Denken ist für Sarrazin „falsches Denken“, es hemmt den Erkenntnisfortschritt und gefährdet die offene Gesellschaft. Von diesem Standpunkt aus rechnet Sarrazin mit den ideologischen Gefahren der Gegenwart ab: politische Korrektheit, „Cancel Culture“, Genderismus, der „Schuldkult“ des Postkolonialismus, der konstruierte Vorwurf des „kulturellen Rassismus“. All diese Ideologeme zielen darauf, reale Unterschiede zwischen Menschengruppen wegzudefinieren und Sündenböcke – bevorzugt den „alten weißen Mann“ – an den Pranger zu stellen, wo die Fakten nicht geleugnet werden können. Ideologien spalten in Gut und Böse, sie interpretieren gesellschaftliche Entwicklung als dualistischen Kampf und enthalten ein utopisches Heilsversprechen, dessen Kernaussagen nicht verifiziert werden können. Letztlich variieren Genderismus, Antikolonialismus, Antirassismus ebenso wie der Konstruktivismus, der alles in „Diskurse“ auflöst, somit nur ein altbekanntes Muster marxistischen Denkens. 

Ideologisches Denken gefährdet 

die offene Gesellschaft

Sarrazin hält dagegen die Fackel der Aufklärung und der Naturwissenschaft hoch: Es gibt nur zwei Geschlechter – für diese simple Tatsache ruft er auch die Feministin Simone de Beauvoir in den Zeugenstand; geistige Eigenschaften des Menschen sind zu einem großen Teil erblich; kulturelle und religiöse Prägung beeinflussen den Erfolg von Gesellschaften und Individuen; und es ist nicht gleichgültig für die Zukunft von Gesellschaften und Nationen, wer die Kinder bekommt und wie viele. 

„Multikulturalismus“ ist für Sarrazin kein wirklicher Pluralismus, weil er Kollektivrechte über das Individuum stellt. Die Länder des Westens haben „das moralische Recht, jedwede illegale Einwanderung zu unterbinden und alle illegalen Einwanderer, denen kein politisches Asyl gewährt wird, auch gegen ihren Willen wieder in ihre Heimatländer zu verbringen“. Dem „universalistischen“ Programm der „Ampel“-Koalition, das Energiewende und eine Rettung der ganzen Welt vor dem „Klimawandel“ absolute Priorität einräumt, einen europäischen Bundesstaat anstrebt und die Grenzen „für mehr kulturfremde, außereuropäische Einwanderung“ öffnen will, bescheinigt Sarrazin in einer vernichtenden Analyse eine unheilvolle „ideologische Prägung“, und er attackiert den Verfassungsschutz, der das Benennen von Fakten bereits als „rechtsextrem“ diffamiert, gleich mit.

Von geschichtsphilosophischem Fatalismus hält Sarrazin allerdings wenig; Überalterung, Bildungsverfall, ethnische und kulturelle Entfremdung und der Verlust technischer, produktiver und wissenschaftlicher Vorsprünge stimmen ihn für die Perspektiven Deutschlands dennoch pessimistisch. Wie Sisyphos müsse man wieder „Inseln der Rationalität“ schaffen, nachdem eine Gesellschaft dem „irrationalen Wahn“ verfallen ist. Immerhin: Bislang sei der seit Jahrhunderten bestehende europäisch-angelsächsische Denkstil, das „größte Wunder der Rationalität“, noch nicht untergegangen.


Thilo Sarrazin: Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. Verlag Langen-Müller, München 2022, gebunden, 392 Seiten, 26 Euro