© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Wenn aus der Laudatio eine Philippika wird
Buchvorstellung von Sarrazins „Die Vernunft und ihre Feinde“: Der Schriftsteller Uwe Tellkamp holt aus zu einer Brandrede gegen den politisch-medialen Komplex
Matthias Bäkermann

Uwe Tellkamp war auf Krawall gebürstet. Die morgendliche Zugverspätung konnte seinen Grimm auf „das beste Deutschland aller Zeiten“, von dem der 53jährige an diesem Montagvormittag noch öfter zynisch sprechen sollte, augenscheinlich nur noch steigern. Um vor Berliner Hauptstadtjournalisten das aktuelle Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“ von Thilo Sarrazin zu präsentieren beziehungsweise diesen zu würdigen, war der Schriftsteller extra aus Dresden angereist.

Daß ein belletristischer Bestsellerautor einen durch seine Sachbücher bekannten Politiker sekundiert, ist eher unüblich. Aber vielleicht hatte der Münchner Langen Müller Verlag die kritische Rezeption im Blick, die Sarrazin seit 2010 im politisch-medialen Komplex provoziert. Denn seinerzeit „brach der Vielfaltsberg aus, der größte Vulkan auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Meinungswirtschaft“, wie Tellkamp die Reaktion auf „Deutschland schafft sich ab“ beschrieb. Und eben Tellkamp sollte spätestens seit 2018 durch kritische Stellungnahmen zur Masseneinwanderung unter Angela Merkel erfahren, wie die Mechanismen im Medienbetrieb funktionieren, unbequeme Inhalte wegzudrücken und von klar benannten Problemen abzulenken, um statt dessen an „einem bösartig herbeigeschriebenen Popanz persönliche Charakterdefizite abzuladen“. Mit dieser Ansage hatte Tellkamp zugleich zur anwesenden Mehrheit der Journalisten von „staatstragenden Medien“, die oft geprägt seien von „Blödheit, Blindheit und Herdentrieb“, alle Fronten klar abgesteckt.

„Vor dem großen schwarzen Loch nach der großen grünen Idee“

Woher denn dieser Zorn über die gesellschaftlichen Verhältnisse komme, fragte ein fast eingeschüchtert wirkender Korrespondent den Schriftsteller. „Woher kommt Ihre Ruhe?“ entgegnete Tellkamp umgehend. „Wer mit wachen Sinnen durch unser Land geht, kann inzwischen nicht ohne einen gewissen Zorn auskommen.“ Die Deutschen müßten im Jahr 2022 überlegen, wie sie in einer Wohnung ohne Ofen warm über den Winter kommen und wie sie Wasserkanister oder Notfallradios mit Kurbel beschaffen, während unsere Politiker in ihrer Hybris die ganze Welt und ihr Klima retten wollen. Zudem erinnere ihn das Ignorieren der Kritik an harten Realitäten zunehmend an die Endphase der DDR, in der statt an den Verhältnissen lieber an den Mahnern herumgemäkelt wurde.

Bereits zuvor hatte Tellkamp in seiner „Laudatio“ zu einer regelrechten Philippika auf das Personal des politischen Betriebs ausgeholt. Auch wenn seine als „Volkswitz“ bezeichneten Verballhornungen gewisser Zustände als „Habecken“, „Baerbocken“ oder „Lauterbachen“ vielleicht nicht bei jedem zündeten, ließ seine klare Ansprache über deren „ewige Phrasen zu E-Autos, Gendern, Klima, die sich nun als Falschgeld entpuppten und nicht von der Lebenswirklichkeit der vielen gedeckt“ würden, keine Fragen offen. „Heute geht es darum, sich zu bevorraten vor dem Knall, dem großen schwarzen Loch nach der großen grünen Idee“, wütete Tellkamp. Alle müßten nun die „Folgen eines Wahns“ ausbaden, den „nicht Putins böser Krieg“, sondern die „Feinde der Vernunft“ – seltener Verweis auf das Buch, das er primär präsentieren sollte – uns eingebrockt hätten. „Wer zwei von drei grundlastfähigen Energien abschaltet, der wird eben von der dritten und ihrem Besitzer abhängig!“

Das sei die Folge einer ideologiebeladenen Politik, auf die Sarrazins Buch zu Recht hinweise. „Wenn der Staat beginnt, Sinn zu suchen, wird es gefährlich“, so Tellkamp, „da hilft nur aufklären, klarhalten, auf Bedeutungsverschiebungen und Sinnverdrehungen hinzuweisen.“ Hoffnungen auf Kurskorrekturen in der von einem Meinungskartell kontrollierten „Talkshowkratie“, als die sich das „Staatsschauspiel“ darstelle, hegt der Dresdner Arzt kaum mehr, da es schon lange nicht mehr um Inhalte gehe. Statt dessen mache er eine Konjunktur von Religion in unserer von Sinnleere geprägten dekadenten Gesellschaft aus. Diese habe nichts mit der klassischen christlichen Lehre zu tun, sondern verharre in einer woken, linken Ideologie, von der das Regierungsprogramm der Ampelkoalition nur so strotze. Aber auch diese neue Religion präsentiere alle alten Rollen und Muster: Es gibt Gläubige, Priester und Hohepriester, Sünder und Ketzer; sogar Götzenbilder und Ablaßhandel seien wieder beobachtbar. Man müsse nur den Blick schärfen.

Das Crescendo des Vortrags des intellektuellen Wutbürgers aus Dresden konnte die eigentliche Hauptfigur des Tages, Buchautor Thilo Sarrazin, nicht fortsetzen. Nüchtern wie auf einer Vorstandssitzung dozierte der frühere Bundesbanker und Berliner Innensenator anschließend aus den Kapiteln seines Buches. Ein leichtes Geplänkel auf dem Podium über Sinn und Unsinn der Corona-Maßnahmen zwischen Tellkamp („ich bin zumindest Impfskeptiker“) und Sarrazin („man muß den staatlichen Maßnahmen vertrauen“) oder die kecke Journalistenfrage, ob Sarrazins berühmt-berüchtigter Haushaltstip für Hartz-IV-Empfänger aus dem Jahr 2008, man möge sich in kalten Wohnungen einfach einen Pullover überstreifen, nicht eine ungeahnte Aktualität habe, konnte die Dramatik der in dieser Form selten zuvor von einem Literaten vorgetragenen politischen Brandrede nicht mehr steigern.