© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Die Schönheit auf den Barrikaden
Philosophie: Vor 150 Jahren erschien Friedrich Nietzsches „Geburt der Tragödie“
Florian Werner

Als im Jahr 1871 unter allgemeinem Jubel das Deutsche Reich proklamiert wurde, blieb nur einer still – Friedrich Nietzsche. Der allzu einfache Waffengang gegen Frankreich schien ihm verdächtig. Der Stolz des siegreichen Deutschlands wirkte hohl auf ihn. Im 1873 veröffentlichten ersten Stück seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ warnte der damals 29 Jahre alte Professor für Philologie vor der „Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ‘deutschen Reiches’“. Zu undeutsch erschienen ihm die in weiten Teilen des Landes ertönenden Rufe nach mehr Demokratie. Zu undeutsch auch das blinde Vertrauen auf den technischen Fortschritt.

Im Jahr 1863 gründete Ferdinand Lassalle in Leipzig mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die erste Massenpartei der deutschen Arbeiterbewegung. 1867 ließ der Unternehmer August Thyssen in Duisburg sein erstes Eisenwerk errichten. Und um 1870 herum begann die Stadt Berlin damit, auf Drängen des berühmten Mediziners Rudolf Virchow eine großflächige Kanalisation und Trinkwasserversorgung aufzubauen. Fabriken, Krankenhäuser und Straßenbahnen schossen wie Pilze aus dem Boden. Das Reich machte Deutschland moderner, nüchterner und wissenschaftlicher. Für Nietzsche war dieser Staat zu wahr, um schön zu sein. Er erblickte die deutsche Kulturnation gerade in dem Moment am Abgrund, in dem sie sich selbst auf ihrem historischen Höhepunkt wähnte. 

Zwischen den Jahren 1869 und 1871 brachte er deshalb sein erstes philosophisches Werk zu Papier: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Das am Neujahrstag 1872 erschienene Buch sollte den jungen Professor nicht nur seine akademische Karriere, sondern auch das Ansehen seiner Kollegen kosten. Sein Mentor aus Studienzeiten, der Leipziger Altphilologe Friedrich Ritschl, notierte nach Lektüre der Schrift nur die Worte „geistreiche Schwiemelei“ in sein Tagebuch. Und das vielleicht nicht ganz zu Unrecht, beschäftigte sich Nietzsche doch seit der „Geburt der Tragödie“ nicht mehr nur noch mit den philologischen Diskussionen seiner Zeit, sondern zunehmend auch mit philosophischen Fragen. „Was ist dionysisch?“ ist von diesen wohl die vordringlichste, die das gesamte Tragödienbuch beherrscht.

Während seiner Studien zu Homer und Hesiod stellte der Philologe Nietzsche immer wieder fest, daß seine Zeitgenossen ein verzerrtes Bild der alten Griechen pflegten. An der Universität schien man daran zu glauben, daß Athener, Spartaner und Epheser vor allem glückliche Jahrhunderte an der zerklüfteten Küste der Ägäis verlebt haben. Wie die deutschen Klassiker vor ihnen – wie etwa Goethe und Schiller – gingen auch Nietzsches Kollegen und Lehrer davon aus, daß die alten Griechen unverstellte, heitere und an Begabungen reiche Geschöpfe waren, denen Kunst, Wissenschaft und Religion ganz unwillkürlich in den Schoß gefallen sind. 

Für Nietzsche hatten sie alle sich vom schönen Schein der griechischen Antike, den er als „das Apollinische“ bezeichnete, blenden lassen. Makellose Skulpturen, monumentale Säulentempel und prächtige Götter- und Heldensagen – der aufbegehrende Philosoph hielt das alles nur für die halbe Wahrheit dieser alten Kultur. „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen“, schreibt er zu Beginn der „Geburt der Tragödie“. Nietzsche war davon überzeugt, daß sich die griechische Kultur aus der Erfahrung unsäglicher Not, aus Leid und Schmerzen heraus entwickelt hatte.

In der Schönheit der Mosaike, Vasen und Fabeln, die uns aus dem einstigen Reich zwischen Peleponnes und Kappadokien überliefert wurden, sah er eine gigantische Selbsttäuschung am Werk. Die alten Griechen erfreuten sich nur an ihnen, um für einen Moment lang den Hunger, den Krieg, die Tyrannis und die Sklaverei in ihrer Welt zu vergessen. Groß waren die Schrecken, groß die Kunst – so Nietzsches Gedankengang. Dieses andere, finstere und fürchterliche Griechenland bezeichnete er als das Dionysische. Die dionysische Kunst war für ihn, anders als ihr apollinisches Gegenbild, imstande, ebendieses Leid einzufangen und die Schmerzen auszudrücken, an denen die Griechen litten. Er sah sie in ihrer orgiastischen Musik und den kultischen Tänzen am Werk – vor allem aber in der attischen Tragödie, die dem Buch seinen Namen gab.

Auf diese Weise radikalisierte Nietzsche einen Gedankengang seines literarischen Vorbilds Arthur Schopenhauer, der in den Künsten einen Ausweg aus der leidvollen Existenz der Menschheit sah. Nietzsche spitzte diese Überlegung weiter zu und machte die Flucht aus dem Leid zum Motiv der menschlichen Kultur schlechthin. Obwohl er sich später überaus kritisch über diese Anlehnung an seinen Vorgänger Schopenhauer – und auch an Kant – äußern wird, nimmt Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ zentrale Einsichten dieser beiden Philosophen auf und denkt sie weiter. Das unerkennbare Ding an sich, die menschliche Verzweiflung am Schein, die erlösende Wahrheit in der Musik – all das findet sich bei Nietzsche auf die Spitze einer Kulturphilosophie getrieben, die auch politische Sprengkraft entfalten sollte. Nicht umsonst sah der Kulturhistoriker und Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck in dem Philosophen den Vordenker einer konservativen Revolution. 

Immer deutlicher schien sich unterdessen für Nietzsche dabei der Gedanke herauszuschälen, daß sich Kultur weder durch wissenschaftlichen Fortschritt noch durch ethische Gebote oder religiöse Riten auszeichnet. Aus seiner Sicht sollte sie den Menschen nicht aufklären, sondern die Welt für ihn verklären. Sie sollte nicht verbessern, sondern verschönern. Moral, Religion und Wissenschaft mit ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit konnten diesem Hoheitsanspruch der Ästhetik nur im Wege stehen. Das Schöne täuscht, es lügt und trügt. Für Nietzsche zu Recht, „denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums“.

In mehreren für die Schublade geschriebenen Papieren aus der Zeit, in der wohl auch die „Geburt der Tragödie“ entstand, baute Nietzsche diesen radikalen Ästhetizismus weiter aus. „Was ist also Wahrheit?“ fragt er in der kleinen Gedankenskizze unter dem Titel „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Und er antwortet: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.“ Ist die Wahrheit also nur ein poetischer Effekt? Mit diesen Worten hatte Nietzsche einen ästhetischen Aufstand angezettelt, der sich seither weit über die Grenzen der Philosophie hinaus ausgedehnt hat.

Anders als Karl Marx, der geistesgeschichtlich oft als sein großer Kontrahent wahrgenommen wurde, bestand Friedrich Nietzsche eigentlich niemals darauf, daß gemeinsame gesellschaftliche Illusionen abgebaut werden.

Eine andere unveröffentlichte Schrift macht die von Nietzsche angezettelte ästhetische Revolte perfekt und verlieh ihr gleichzeitig eine konkrete politische Gestalt. In „Der griechische Staat“ läßt er noch einmal die griechische Antike an sich vorüberziehen und kommt dabei zu dem Schluß, daß der Staat nicht nur die höchste politische Gewalt in der Gesellschaft, sondern auch die zentrale ästhetische Instanz im Leben der allermeisten Menschen darstellt. Der Staat sei „der Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatenlebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!“

Mit diesem Gedanken hat Nietzsche nicht nur die klassische politische Philosophie von Hobbes über Rousseau bis Hegel unterlaufen, sondern uns auch erlaubt, das Wort „Aufstand“ in einem gänzlich anderen Licht zu sehen – als Ruf nach Glanz und Glorie, nicht nach Brot und Arbeit. In der „Geburt der Tragödie“ ließ Nietzsche die Schönheit auf die Barrikaden steigen, um für eine Welt zu streiten, die vielleicht nicht wahr, nicht gerecht und auch nicht fromm, wohl aber anmutig und erhaben ist.

Das Deutsche Reich ist dem Ruf Nietzsches nach einem solchen schönen Staat letztlich wohl eher nicht nachgekommen. Bismarcks kühle Machtarithmetik, die Aufrüstung unter Wilhelm II. und der deutsche Griff nach einem „Platz an der Sonne“ können vielleicht als Großtaten betrachtet werden – als solche sind sie aber noch lange nicht schön. Auch Richard Wagner, in den Nietzsche zunächst all seine Hoffnungen für eine Erneuerung der deutschen Kulturnation gesetzt hatte, sollte den Philosophen nur einige wenige Jahre nach der Veröffentlichung der „Geburt der Tragödie“ bitter enttäuschen. Die romantische Unwucht von Wagners Kompositionen entfernte Nietzsche immer weiter von seinem musikalischen Idol. Aus künstlerischen Weggefährten wurden ästhetische Rivalen. Das macht die Botschaft dieses Erstlingswerks deshalb aber noch lange nicht zunichte. Auch 150 Jahre nach Veröffentlichung des Buches lohnt es sich, diese Vision aufzunehmen.


Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2014, gebunden, 416 Seiten, 20 Euro