© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Von Ausgrenzung geprägt
Stadtentwicklung: Warum sich Politiker und Planer auf einem neoliberalen Holzweg befinden
Dirk Glaser

Im Rückblick auf Angela Merkels Kanzlerschaft, angesichts ihrer grün inspirierten, „Energiewende“ getauften Weltrettungsutopie, dem von ihr forcierten Umbau Deutschlands zum Weltsozialamt, ihrer Rückendeckung für den Inflationskurs der Europäischen Zentralbank oder ihrer naiven Rußlandpolitik, um nur einige Marksteine ihrer Amtszeit zu nennen, läge der Schluß auf einen verkümmerten Realitätssinn nahe, mit dem ihre und die nachfolgende „Generation Habeck“ geschlagen zu sein scheint. 

An einem weiteren Beispiel solcher Politik, die zwangsläufig das Gemeinwesen zerstört, versucht der weit links stehende Hamburger Architekturkritiker Claas Gefroi jedoch aufzuzeigen, daß es sich dabei nicht allein um persönliche Defizite zweier Alterskohorten, sondern auch um kapitalistisches Systemversagen handelt, das sich für ihn unübersehbar in der „Krise der Innenstädte“, in ihrer Kommerzialisierung, Privatisierung, Verödung sowie in ihrem wirtschaftlichen Niedergang widerspiegelt (Konkret, 8/2022).

Gefroi greift in seiner Philippika gegen eine von Anfang an verfehlte, gleichwohl seit drei Jahrzehnten stur exekutierte Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik einen Appell auf, den unter anderen die Bundesstiftung Baukultur Anfang September 2020 im Kontext der Corona-Pandemie an die politischen Entscheidungsträger gerichtet hat. Darin es heißt: „Unsere Innenstädte stehen vor einem nie gekannten rasanten Niedergang. (…) Neben dem Einzelhandel sind wichtige frequenzbringende Funktionen in den Innenstädten mindestens ebenso betroffen: Gastronomie, personenbezogene Dienstleistungen, Hotellerie und Tourismus, Kultur, Freizeit und Sport, Events, Messen und Kongreß.“

Innenstädte orientieren sich an Handel und Konsum

Unbeabsichtigt offenbare dieser Aufruf die eigentliche Ursache der Krise: die Orientierung der Innenstädte an Handel und Konsum. Historisch betrachtet sei das kein neues Phänomen. Hamburg etwa habe nach dem Brand von 1842, der weite Teile der Altstadt zerstörte, seine frühneuzeitlich kleinteilige Grundstücksparzellierung zugunsten großer Flächen und Gebäude aufgegeben. War das gesamte Zentrum bis dahin geprägt von engen, dicht bebauten Wohnvierteln, den sogenannten Gängevierteln, deren letztes die Bomben der Royal Air Force im Juli 1943 in Schutt und Asche verwandelte, so wurden diese Quartiere bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach und nach abgerissen und bevorzugt für Handel und Gewerbe neu erschlossen, während man ihre Bewohner in neue Arbeiterviertel jenseits des Stadtwalls umsiedelte. Dieser Prozeß vollzog sich in allen größeren deutschen Städten, setzte auf breiter Front jedoch erst nach 1945 ein, als man vor allem in der Bonner Republik den Wiederaufbau der durch den angloamerikanischen Bombenkrieg verwüsteten Innenstädte als „Chance“ pries, um sie zu Einzelhandels-, Büro- und Dienstleistungszentren mit wenigen kulturellen Einsprengseln umzugestalten.

Hier steht eine Zwischenüberschrift  Zwischenüberschrift

Dieses Modell hatte sich selbst in Kleinstädten kurz vor der Wiedervereinigung schon überlebt, da Einkaufszentren an der Peripherie verstärkt Kunden anlockten und viele Firmen es vorzogen, sich in verkehrstechnisch besser erreichbaren Lagen am Stadtrand neu zu etablieren. In den nun vom Geschäftsbetrieb partiell entlasteten Zentren sei es aber keineswegs zur „Renaissance der Städte“ gekommen, wie dies in den 1990ern der Umbau einstiger Bahn-, Industrie- und Hafenflächen zu „attraktiven Quartieren für die Kultur- und Kreativwirtschaft“ suggerierte. Diese neuen Stadtbereiche imitierten zwar äußerlich mit Straße, Block, einheitlicher Traufhöhe, Kleinteiligkeit und Nutzungsmischung den Städtebau des späten 19. Jahrhunderts, der bundesdeutschen Architekten und Stadtplanern wie Hans Kollhoff oder Christoph Mäckler als Spitzenleistung europäischer Städtebaukunst galt. Doch wer heute durch diese neuen Stadtteile schlendere, egal ob durch die Hamburger Hafencity, die Bremer Überseestadt oder Frankfurt-Riedberg, merke sehr schnell, daß die versprochene „Urbanität“ sich partout nicht einstellt – Blockschema, hoher Dichte und Funktionsmischung zum Trotz. Das sei auch nicht dadurch zu ändern, wie viele Kritiker vorschlagen, daß man die monotonen Glas- und Betonblöcke mit Putzfronten, Fassadenschmuck und Satteldächern historistisch verbrämt: Auch Neotraditionalismus und kritische Rekonstruktion würden keine „lebenswerte Stadt“ kreieren.

Daß die Berliner Republik diesen städtebaulichen Holzweg einschlug, führt Gefroi zurück auf den in den 1990ern alle gesellschaftlichen Ebenen erfassenden Siegeszug neoliberaler Ideologen. Dieser markiere im Vergleich mit der Stadtgestaltung seit 1850 eine historische Zäsur. Der Staat habe sich erstmals vom sozialen Wohnungsbau verabschiedet. Für Politiker und Stadtplaner habe dies bedeutet, noch Gebäudehöhe und Fassadenmaterial im Detail vorgeben zu können, aber nicht mehr bestimmen zu dürfen, wer da was für wen errichtet. Das sei exklusiv dem Immobilienmarkt überlassen worden – mit der Folge eines „nie dagewesenen Ausverkaufs“ städtischen Eigentums an börsennotierte Immobilienkonzerne und Fonds, so daß deutsche Städte bis heute immer krasser die soziale Spaltung, die Ungleichheit der Einkommensverteilung abbilden: „In einem von Profitinteressen gesteuerten Wohnungsmarkt nimmt die soziale Heterogenität stetig ab und führt zu einer wachsenden räumlichen Distanz von unterschiedlichen Einkommensgruppen und sozialen Milieus – bis hin zur Form der jeweils sozial homogenen Gated Communitys auf der einen und den Arme-Leute-Ghettos auf der anderen Seite. Gleichzeitig verliert die in den letzten Jahrzehnten dominierende Mittelschicht in den Städten immer mehr an Bedeutung.“ 

Im Ergebnis führt die polarisierte Gesellschaft zu Städten, die von Ausgrenzung geprägt sind. Von sozialer Integration könne keine Rede mehr sein, wo nach US-Muster die „Business Improvement Districts“ (BID) expandieren. Dort schließen sich Immobilieneigentümer und Gewerbetreibende zusammen, um die umsatzsteigernde „Standortqualität“ zu erhöhen. Der städtische Raum werde daher in den BIDs zum noblen, verkaufsfördernden Entree für Geschäfte und Dienstleistungen, die nur „besserverdienende“ Kunden ködern. Dieser Klientel zuliebe hat die Stadt Hamburg einst das Areal der Hafencity an Investoren verkauft, die mit dem Überseequartier einen komplett in Privathand befindlichen Stadtsektor schufen, der ebenso veröde wie das in den 2000ern entstandene Büro- und Wohnquartier Hafenkrone mitten in St. Pauli, das an „Trostlosigkeit“ wohl nicht zu unterbieten sei. Denn die angeblich „mitten im Kiez“ liegenden Wohnungen können sich nur potente Mieter oder Käufer leisten. Eine für die „Lebendigkeit“ des Quartiers unerläßliche Voraussetzung, ein gemischtes, nach Größe und Preis abgestimmtes Wohnungsangebot, fehle jedoch in der Hafenkrone. Dann müsse man sich nicht wundern, wenn auch dort die Homogenität der Wohlhabenden das „Absterben des Stadtlebens“ nach sich ziehe.

Mitunter berühren sich in Gefrois linker Argumentation die Extreme, wenn sie ungewollt an Arthur Moeller van den Brucks Credo „Am Liberalismus gehen die Völker zugrunde“ (1923) anklingt. Mit dem Vordenker der Konservativen Revolution verbindet ihn das hohe Niveau gesellschaftskritischer Diagnose allerdings ebenso wie die Unzulänglichkeit der Therapie. Hält Gefroi es doch unter der Herrschaft des neoliberal radikalisierten Kapitalismus – dessen DNS nun einmal auf Atomisierung des Sozialen angelegt ist, darauf, alles „Ständische“, Familie, Volk, Staat, Nation, „zu verdampfen“ (Karl Marx) – ernsthaft für möglich, zu dem für ihn vorbildlichen gemeinwirtschaftlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbau der Weimarer Republik zurückkehren zu können. 

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