© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die Buchvorstellung Thilo Sarrazins über „Die Vernunft und ihre Feinde“, dessen Titel auf ein Werk von Karl Popper anspielt, erscheint mir rückblickend wie „Der Journalisten Zähmung“ – jedenfalls in der Rahmenhandlung: den Tagungsräumen im Haus der Bundespressekonferenz. Doch ist es von Shakespearescher Dimension? Immerhin wird die Präsentation sekundiert von dem Schriftsteller Uwe Tellkamp, der in einer poetischen Philippika den politischen Betrieb dieses Landes geißelt, indem er das „Habecken“, „Baerbocken“, „Faesern“ und vor allem das „Lauterbachen“ definiert. Wer „lauterbacht“, fordere „Mehr Diktatur wagen!“, um ungestraft die Gesellschaft mit Maßnahmen zu disziplinieren. Zugleich warnt Tellkamp angesichts der totalitär erscheinenden Marschrichtung im Namen der klimatologischen Weltrettung („E-Räder müssen rollen für das Klima!“) vor dem Zusammenbruch zunächst der lokalen Ordnung. Danach würden natürliche Autoritäten und Begabungen hervortreten – so zumindest die vorherrschende Erwartung im einstigen „Tal der Ahnungslosen“. Vorstellen mag ich mir diese Situation nicht, höchstens kalauern: „Hätte, hätte, Lieferkette“.

Die Kundgebung der Kritiker der Corona-Politik endet mit dem Hit „Moskau“ von Dschinghis Khan.

Unterdessen scheint in Deutschland der Krieg gegen das Virus immer noch höchste Priorität zu besitzen. Immer bizarrer oder gar gespenstischer dabei die Szenarien: So endet die Hauptkundgebung der Widerstandswoche der Kritiker des Corona-Maßnahmenstaats vor dem Reichstag, wo die Freilassung Michael Ballwegs gefordert wird, mit dem von DJ „Captain Future“ eingespielten Hit „Moskau“ von Dschinghis Khan. Die versammelte Menge ist begeistert, tanzt und singt aus voller Kehle – nicht wissend, daß die eigentliche Corona-Diktatur Rußland ist, wo jüngst ein Moskauer Abgeordneter wegen eines Straßenprotests gegen Putins Corona-Politik zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Derweil erinnern mich die jüngsten Meldungen über die Hintergründe des Mordes an Darja Dugina an das bereits durch Josef Stalin bekannte Muster nach der Ermordung seines Rivalen Sergei Kirow 1934. Noch immer klingt mir die DDR-Belehrung im Ohr, der von „Nazi-Deutschland“ ausgegangene Krieg habe zwangsläufig nach Deutschland zurückkommen müssen. Insofern ist es eine blutige Ironie der Geschichte, daß die präzisen Anschläge auf russischem Gebiet, etwa auf der Krim, tatsächlich „militärische Spezialoperationen“ sind.


Vor der Gethsemanekirche wird montags das allwöchentliche Schauspiel unter der Corona-Regentschaft dargeboten, auf der einen Seite die mit Atemmasken gewappnete Antifa, die augenscheinlich Angst vor dem „Freiheits-Virus“ hat. Mein ungläubiger Blick erkennt in der winzigen, auf Krawall gebürsteten Gruppe auch den einstigen Kommilitonen aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Unter Polizeischutz werden die auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Kritiker der Corona-Politik massiv gestört: Aus dem Lautsprecher dröhnt linksradikales Liedgut, das im Refrain explizit Gewalt ankündigt („Querdenker klatschen“). Für den Polizisten, den ich darauf anspreche, ist der Fall ganz klar: „Kunstfreiheit“.