© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Lügen im Amt für die Wahrheit
Ausstellung: Das Deutsche Hygiene-Museum widmet sich mit seiner „Fake“-Sonderschau einem menschlichen Phänomen
Paul Leonhard

Seltsamerweise gibt es das „Amt für die ganze Wahrheit“ bisher nur als Teil einer Sonderausstellung im Deutschen Hygiene-Museum zu Dresden und nicht als wichtiges Ministerium der Bundesregierung. Dabei geht es in der „Welt drunter und drüber“, wie Chefbeamter Hans Wahr, dargestellt von dem Schauspieler Martin Wuttke, den Besuchern gleich zu Beginn mit auf den Weg gibt: Großkonzerne betrügen ihre Kunden, Sportler sind bis in die Haarspitzen gedopt und Politiker lügen das Blaue vom Himmel herunter. Ganz zu schweigen vom Agieren des Verfassungsschutzes, aber letztere Behauptung Hans Wahr in den Mund zu legen wäre eine Fake News. Und genau diese stehen mit ihren Schwestern, die alle den Vornamen Fake tragen – Fake-Profile, Fake-Produkte –, im Mittelpunkt der Schau „Fake. Die ganze Wahrheit“.

In der deutschen Sprache gibt es das schöne alte und vor allem klar definierte Wort „Lüge“ für eine Aussage, von der der sie Aussprechende genau weiß, daß sie unwahr ist, oder – sprachwissenschaftlich definiert – „die (auch nonverbale) Kommunikation einer subjektiven Unwahrheit mit dem Ziel, im Gegenüber einen falschen Eindruck hervorzurufen oder aufrechtzuerhalten“.

Warum jemand lügt, hat unterschiedliche Gründe: um einen Vorteil zu erlangen, eine verbotene Tat zu verdecken und so einer Strafe zu entgehen, aber auch aus Höflichkeit, Scham, Angst, Furcht, Unsicherheit oder Not. Vor allem aber kann, so wiederum Chefbeamter Hans Wahr, „die Lüge von heute die Wahrheit von morgen sein und umgekehrt“. Und gibt es nicht auch kollektive Lügen, an die sich ganze Völker klammern?

Die Besucher der Sonderschau sind ausdrücklich aufgefordert, die ihnen auf der Parcours durch fiktive Behördengänge aufgetischten Lügen zu erkunden, einzuschätzen und zu bewerten. Oder selbst zu schwindeln und zu schauen, wie weit man damit kommt.

„Fachabteilung für Lügenerziehung und Pinocchio-Forschung“

Wahrheit kann auf der Strecke bleiben, wenn sie über zu lange Strecken transportiert wird, so wie es Kinder erfahren, wenn sie „Stille Post“ spielen. Reichskanzler Bismarck befürchtete vor 150 Jahren, daß das Telefon zur schnellen Verbreitung von Lügen mißbraucht werden könnte. Unkorrekte Übermittlung, Mißverständnisse, undeutliche Aussprache – aus Wahrheit wird Unwahrheit, wenn es an Wissen und Überprüfbarkeit fehlt.

Im Deutschen Bundestag wird beispielsweise vorausgesetzt, daß dessen Angehörige grundsätzlich nicht lügen. Wenn ein Volksvertreter einen anderen als Lügner bezeichnet, hat er einen Ordnungsruf oder gar eine Rüge durch den Bundestagspräsidenten zu erwarten. Nicht geahndet wird dagegen der Vorwurf, ein Parlamentarier habe die Unwahrheit gesagt, weil das auf einem Irrtum beruhen kann. Selbst der Vorwurf, „wissentlich die Unwahrheit“ gesagt zu haben, zieht keine Ordnungsmaßnahme nach sich. Das Wort „Lüge“ ist also die härteste Währung, von der allerdings die Philosophin Hannah Arendt behauptet, sie sei der einzige Beweis dafür, daß Menschen frei sein können, weil eine Wahrheit einen verpflichtet, einen bindet. Allein die Fähigkeit zu lügen bestätige also, daß es etwas wie Freiheit gibt.

Was als wahr gilt oder als Lügen bewertet wird, ist oft eine Frage der Konventionen und der individuellen Perspektive. Augustus, der als der erste Philosoph und Theologe gilt, der sich mit dem Thema Lüge systematisch und ausführlich beschäftigte, gelangte zu der Erkenntnis, daß eine Lüge, um erfolgreich zu sein, das Vertrauen in die Wahrheit menschlicher Rede voraussetzt, das sie zugleich zerstört. Und Friedrich Nietzsche, für den Wahrhaftigkeit in der moralischen Verpflichtung bestand, „nach einer festen Konvention zu lügen“, formulierte in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ den Satz: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“

In der musealen „Fachabteilung für Lügenerziehung und angewandte Pinocchio-Forschung“ wird an der Geschichte der Kinderbuchfigur Pinocchios verdeutlicht: Der Weg zur Wahrheit will gelernt sein. „Du willst nicht zu Oma und Opa fahren? – A: Ich behaupte, Bauchweh zu haben. B: Letztes Mal ist mir wirklich schlecht geworden auf der Fahrt.“

Doch, um erneut Nietzsche zu zitieren: „Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist  („Also sprach Zarathustra“). Wie es jeder selbst mit der Wahrheit beziehungsweise der Lüge halten würde, kann aktiv mit großen Würfeln getestet werden. So vielleicht etwas kleinlaut geworden, erfährt der Besucher in der „Abteilung für strategische Täuschung“, daß auch in der Natur nicht alles echt ist, daß Tiere und Pflanzen geschickt vortäuschen, ganz andere zu sein. In dieser Abteilung kommen einige Tiere zu Wort, die von ihrem Leben zwischen Wahrheit und Lüge berichten – und da geht es sehr viel menschlicher zu, als man denkt.

„Kleine Höflichkeiten und Lügen erleichtern das Zusammenleben enorm“, läßt sich Chefbeamter Wahr zitieren. Aber wie ist das mit Notlügen, Täuschungen, Arglist, Ausreden, Schwindeln, Flunkern, Seemannsgarn, Aprilscherzen und Zeitungsenten? Die „Zentrale Lügenanlaufstelle“ erläutert, welche Lüge verzeihlich und welche tödlich, welche womöglich sogar notwendig und welche einfach nur lustig ist. Kistenweise werden den Besuchern Lügengeschichten aufgetischt, die auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen sind.

Politikern wird das geringste Vertrauen entgegengebracht

Glaubwürdigkeit ist im Alltag eine hohes Gut, weswegen zahlreiche Berufsgruppen viel Wert darauf legen, in entsprechenden Rankings Spitzenwerte zu erreichen. So erfahren die Besucher in dem Raum der „Kommission für Glaubwürdigkeit“, daß Feuerwehrleuten das größte Vertrauen entgegengebracht wird, Politikern dagegen das geringste. Doch was sagen die Betroffenen selbst dazu, wie gehen sie mit Lügen in ihrem Berufsfeld um? Die Besucher erwartet eine Diskussion zwischen acht verschiedenen Berufsgruppen, die natürlich alle meinen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.

Spannend wie im Krimi wird es dagegen in der „Prüfstelle für Fälschung und ihr Gegenteil“ sowie im „Labor der Lügenerkennung“. Hier geht es um die Originale von Kunstwerken, Design-Klassikern, Reliquien oder profanen Markenartikeln und von ihnen mitunter kaum unterscheidbaren Kopien sowie um die Frage, was Körperreaktionen, typische Kopfhaltungen oder die Mimik darüber verraten, ob jemand gerade lügt oder nicht. Um die Wahrheit herauszufinden, bemühen sich Strafverfolgungsbehörden seit Jahrhunderten, eine Lüge wissenschaftlich meßbar zu machen. Immerhin begnügt man sich im Lügenerkennunglabor mit einem Lügendetektortest und verzichtet auf die Folterwerkzeuge der Inquistition.

Und weil auch ein „Amt für die ganze Wahrheit“ natürlich immer neue Mitarbeiter sucht, kann in der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“ jeder selbst einen Faktencheck zu realen Nachrichten übernehmen. Und da manche Lügen so alt sind wie die Menschheit, gibt es zum Abschluß die „Medienstelle für alte und neue Fake News“, in der ein Zeitstrahl hilft, die Fake-Fülle der Gegenwart richtig einzuordnen. Schließlich wurden speziell seit der Erfindung des Buchdrucks von Massenmedien Unmengen von Falschmeldungen hervorgebracht. Da es aber aus vergangenen Jahrhunderten keine verläßlichen Daten über die Lügenhäufigkeit jener Zeiten gibt, ist auch die Annahme, daß heute häufiger gelogen wird als früher, angesichts der aktuellen Informationsüberflutung eben nur ein Eindruck. Eine existentielle Frage klammert auch das „Amt für die ganze Wahrheit“ aus: Was passiert eigentlich, wenn sich die Menschen einfach nicht mehr für Nachrichten interessieren, wenn ein allgemeines Desinteresse die Neugier verdrängt?

„Wenn man genau hinschaut, gibt es zwar schon Wahrheiten, aber wirklich nur sehr, sehr wenige unverrückbare Wahrheiten“, sagt Ausstellungskurator Daniel Tyradellis. Ein Amt wie das „für die ganze Wahrheit“ gebe der Gesellschaft die Infrastruktur, „die es braucht, damit man sich auf verläßliche Dinge zurückziehen kann“.


Die Ausstellung „Fake. Die ganze Wahrheit“ ist bis zum 5. März 2023 im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, 01069 Dresden, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Besuchertelefon: 0351 / 48 46-400 www.dhmd.de

 „Labor der Lügenerkennung“ als Teil einer Sonderausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden: „Wahrheiten sind Illusionen“ / Daumenschraube: Folterinstrument der mittelalterlichen Inquisition