© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Wanderer zwischen beiden Welten
Vor einhundert Jahren starb der französische Sozialphilosoph Georges Sorel / Egal ob links oder rechts, Hauptsache gegen die liberale Demokratie
Karlheinz Weißmann

Nachdem der Tod Georges Sorels bekannt geworden war, sollen die russische – bolschewistische – wie die italienische – faschistische – Regierung angeboten haben, für die Pflege seines Grabes aufzukommen. Wahrscheinlich ist das eine Legende, aber aufschlußreich ist sie insofern, als Sorel zu jenen Denkern gehört, die schwer einer politischen Seite zuzuschlagen sind. Was darauf zurückzuführen ist, daß er seine Arbeit auf die Analyse einer liberalen Gesellschaft konzentrierte, die er als unfähig betrachtete, eine dauerhafte Ordnung zu schaffen. Dem stellte er den Entwurf einer „quiritischen“ Gemeinschaft entgegen, die Züge eines umfassenden „totalen“ Staates aufwies.

Entscheidend ist nicht das Danach, sondern die Mobilisierung

Was daraus als „Totalitarismus“ geworden ist, hat Sorel weder miterlebt noch abgesehen. 1847 geboren, gehörte er durch Herkunft, Berufswahl – er arbeitete als beamteter Ingenieur – und Lebenslauf zu jener Bourgeoisie, der dann seine ganze Verachtung galt. Erst Ende der 1880er Jahre konnte er seinen Brotberuf aufgeben und sich nur noch der Lektüre und dem Schreiben widmen. Seine Aufsätze erschienen in Zeitschriften der radikalen Linken, er selbst betrachtete sich als revolutionärer Sozialist und als Marxist, womit er innerhalb der französischen Arbeiterbewegung dieser Zeit einer vergleichsweise schwachen Strömung angehörte. Es ist allerdings bezweifelt worden, daß Sorel je intensiv Marx studiert hat, und auf die Dauer bestimmte ihn wesentlich stärker der Einfluß eines anderen sozialistischen Theoretikers: Pierre-Joseph Proudhon. Das lag auch daran, daß Sorel weder für ökonomische Fragen noch für die Pläne der Utopisten Interesse aufbrachte. Ihm ging es vielmehr darum, eine Gesellschaftsform zu überwinden, die er als tief korrupt betrachtete und von der er glaubte, daß sie zum Untergang verurteilt sei.

Sorel orientierte sich für diese Einschätzung an der „Großen Parallele“ – dem Untergang Roms –, was vor allem an seinem 1898 erschienenen Buch „La ruine du monde antique“ deutlich wurde. Das war für einen Mann der Linken zwar ungewöhnlich, aber noch wesentlich irritierender wirkte die Hochschätzung, mit der er in seiner Abhandlung „Le système historique de Renan“ von 1906 einen Autor wie Ernest Renan behandelte, den man zu den unerbittlichsten Kritikern des nachrevolutionären Frankreichs rechnen darf, und wie massiv er in der Folge mit den „Illusionen des Fortschritts“ aufräumte, als er 1908 „Les illusions du progrès“ veröffentlichte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Sorel zwar noch nicht mit dem Sozialismus gebrochen, er war aber durch dessen Entwicklung tief enttäuscht. Die Hauptursache dafür lag im Verhalten der Linken während der Dreyfus-Affäre. Ursprünglich hatte Sorel geglaubt, daß in der Verteidigung des unschuldigen jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus gegen die Anklage des Landesverrats eine neue, der bürgerlichen überlegene Moral zum Ausdruck komme. Nach dem Sieg der Dreyfusards mußte er aber begreifen, daß sich die neuen Politiker um keinen Deut besser verhielten als die alten: „Die Erfahrung hat uns bis heute noch immer bewiesen, daß unsere Revolutionäre, sobald sie nur zur Macht gelangt sind, sich auf die Staatsräson berufen, daß sie dann Polizeimethoden gebrauchen und die Gerichtsbarkeit als eine Waffe ansehen, die sie gegen ihre Feinde mißbrauchen können.“

Diese bitteren Sätze stammen aus dem Buch, das als Hauptwerk Sorels angesehen wird: „Réflexions sur la violence“. Eigentlich handelte es sich dabei um eine Reihe von Aufsätzen und ausführlichen Besprechungen, die erst 1908 Buchform erhielten. Das Leitmotiv der Texte war die Ablehnung des Weges, den die einflußreichsten Gruppen der Arbeiterbewegung eingeschlagen hatten, als sie sich zu den Prinzipien des Parlamentarismus bekannten. Sorel setzte dem die Forderung entgegen, an der Revolutionsbereitschaft festzuhalten und das hieß an der Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt. Dahinter standen Erwägungen, die von der Machtphilosophie Nietzsches, der Massenpsychologie Gustave Le Bons und Henri Bergsons Lehre von der Bedeutung des Élan vital bestimmt waren. Denn Sorel meinte, daß nur im Kampf ein neuer Verband entstehen könne, durch das beflügelt, was er den „Mythos“ genannt hat, ein „Schlachtbild“, das in den Menschen die Vorstellung vom Zusammenstoß mit dem Feind aufruft. Entscheidend war Sorels Meinung nach also nicht das Danach, sondern die Mobilisierung. Die traute er angesichts der Korrumpierung der Arbeiterparteien nur noch jenen Gewerkschaftsgruppen zu, die in den großen Streikbewegungen der Zeit ihren Angriffswillen unter Beweis gestellt hatten.

Als Erzvater der Konservativen Revolution eingeordnet

Sehr lange hat Sorels Hoffnung auf diesen „Syndikalismus“ allerdings nicht gehalten, was auch erklärt, warum er in seinen letzten Jahren andere Träger einer radikalen Veränderung suchte. Kurzzeitig führte das sogar zur Zusammenarbeit mit dem Neo-Royalisten Charles Maurras und dessen Action française, aber vor allem zur sensiblen Wahrnehmung von unerwarteten Mutationen innerhalb der Linken. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich Sorels oft zitierte Einschätzung, daß der junge Arbeiterführer Benito Mussolini kein „gewöhnlicher Sozialist“ sei, sondern daß man ihn wohl einmal „an der Spitze eines heiligen Bataillons die italienische Fahne mit dem Degen“ grüßen sehen werde.

Sorel starb allerdings vor Mussolinis Marsch auf Rom. Das hat ihm die Enttäuschung erspart, die der Oktoberputsch Lenins in Rußland bereitgehalten hatte. Der eine wie der andere Vorgang waren ohne den Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen, den Sorel als weiteren Schritt zur Zerstörung Europas betrachtete. Seine anfängliche Sympathie für das bolschewistische Experiment wich rasch der Ernüchterung. Die roten Massaker hatten nichts mit dem zu tun, was er unter revolutionärer Gewalt verstand. Als Sorel am 29. August 1922 starb, war er weitgehend vergessen. Was nicht bedeutet, daß sein Werk ohne Wirkung blieb. Das galt vor allem im Hinblick auf jene Ideen, die es erlauben, ihn entweder als „Erzvater der Konservativen Revolution“ (Armin Mohler) oder als wichtigen Repräsentanten eines „heroischen Sozialismus“ (Alain de Benoist) zu betrachten.


Georges Sorel, Foto um 1915: Stets an der an der Revolutionsbereitschaft festhalten