© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Jenseits des Radars
Vor neunzig Jahren begann in Südamerika der dreijährige Chaco-Krieg zwischen den Binnenstaaten Paraguay und Bolivien
Wolfgang Bendel

Vor genau neunzig Jahren brach im Herzen des südamerikanischen Halbkontinents ein mehrjähriger Krieg aus. Er blieb im Rest der Welt weitgehend unbeachtet, denn die zeitgleich stattfindenden politischen und militärischen Konflikte in Europa und im Fernen Osten lenkten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich. Der Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien, den beiden einzigen Binnenstaaten Südamerikas, dauerte drei Jahre, von 1932 bis 1935, und war eine der verlustreichsten Auseinandersetzungen, die auf dem Halbkontinent seit der Unabhängigkeit ausgetragen wurden. 

Sowohl Paraguay als auch Bolivien hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits schwere militärische Niederlagen erlitten. Im Krieg gegen die Tripel-Allianz, bestehend aus Brasilien, Argentinien und Uruguay, mußte Paraguay nicht nur weite Gebiete abtreten, sondern es verlor auch bis zu sechzig Prozent seiner Bevölkerung, vor allem Männer. Bolivien wiederum trat im Salpeterkrieg, den es zusammen mit Peru gegen Chile geführt hatte, seinen einzigen Zugang zum Meer an Chile ab. Anfang des 20. Jahrhunderts mußte Bolivien überdies auf einen erheblichen Teil seiner Amazonasgebiete zugunsten Brasiliens verzichten. 

Das zwischen Bolivien und Paraguay umstrittene Gebiet mit einer Fläche von 324.000 Quadratkilometern ist bis heute eine der abgelegensten und unwirtlichsten Gegenden Süd-amerikas und unter der Bezeichnung Gran Chaco bekannt. Die Abgeschiedenheit und reletave wirtschaftliche Wertlosigkeit der Landschaft hatten zur Folge, daß die Kolonialmacht Spanien keine Anstrengungen unternommen hatte, das Gebiet administrativ zu erfassen. Nach der Unabhängigkeit existierten die Ansprüche der jungen Republiken Paraguay und Bolivien auf dieses nahezu unbewohnte Territorium weiterhin nur auf dem Papier. Für ihre konkrete Umsetzung fehlte die organisatorische Kraft.

Seite Ende des 19. Jahrhunderts kam es unter internationaler Vermittlung zu mehreren Versuchen, den Gran Chaco zwischen den beiden Ländern aufzuteilen. Ein tragfähiger Kompromiß wurde aber nie erreicht. Die Gegensätze verschärften sich zusehends, und im Februar 1927 erfolgte dann der erste blutige Zusammenstoß. Mehrere paraguayische Soldaten drangen in von Bolivien beanspruchtes Gebiet ein, wurden von Bolivianern festgesetzt, wobei ein paraguayischer Leutnant bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. Von diesem Zeitpunkt an kam es immer häufiger zu Zusammenstößen, die im Sommer 1932 in einen regelrechten Krieg mündeten. Aber erst am 10. Mai 1933 erklärte Paraguay schließlich Bolivien offiziell den Krieg.

In der Zwischenzeit hatten beide Seiten trotz ihrer überaus beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten gewaltig aufgerüstet. Bolivien war dabei überlegen, sowohl was die Mannschaftsstärke als auch die materielle Ausrüstung seiner Streitkräfte betrifft. Beide Seiten erwarben aus Europa und den USA Kampfflugzeuge und -bomber, Panzer, Maschinengewehre und weiteres schweres Material.

Taktik und Strategie von Seiten Paraguays waren erfolgreicher

An der Spitze des bolivianischen Heeres stand der deutsche Offizier Hans Kundt, der bereits im Ersten Weltkrieg gekämpft und kurz davor in Bolivien als militärischer Ausbilder gewirkt hatte. Er war im Zeichen der verschärften Krise nach Bolivien zurückgekehrt, nahm die bolivianische Staatsbürgerschaft an und wurde 1923 zum Kriegsminister ernannt. Im Gegensatz zum größten Teil des Offizierskorps war der polpuläre General um das Wohlergehen jedes einzelnen Soldaten bemüht. Eine Kuriosität am Rande: Kundt holte Ernst Röhm, den späteren Führer der SA, 1928 als Ausbilder nach Bolivien. 1930 verließen Kundt und Röhm das Land wieder nach Europa. Angesichts der akuten Kriegsgefahr kehrte Kundt 1932 allein dorthin zurück, um als Oberbefehlshaber zu dienen. 

Kundts Gegenspieler auf paraguayischer Seite war José Félix Estigarribia, der postum zum Feldmarschall ernannt wurde, nachdem er als Präsident Paraguays 1940 bei einem Flugzeugabsturz umgekommen war. Der Kriegsverlauf sollte zeigen, daß Estigarribia seinem deutsch-bolivianischen Gegenpart in Strategie und Taktik überlegen war. Kundt orientierte sich in seinen militärischen Überlegungen zu sehr an seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, die aber in einem Landstrich am Ende der Welt weitgehend nutzlos waren. Kundt bevorzugte den Stellungskrieg, während Estigarribia wesentlich beweglicher agierte und den Feind immer wieder einkesselte.

Mitte 1935 wurde es unübersehbar, daß Paraguay den Krieg für sich entscheiden würde. Ein Vormarsch auf wichtige bolivianische Städte wie Santa Cruz de la Sierra oder Tarija schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Allerdings war Paraguay durch den langen Krieg erschöpft, hatte kaum noch personelle und wirtschaftliche Reserven. Bolivianische Kriegsgefangene mußten teilweise die Versorgung der paraguayischen Zivilbevölkerung sicherstellen, weil fast alle Männer Paraguays an der Front waren. In dieser Situation entschlossen sich beide Seiten zu einem Waffenstillstand, der am 14. Juli 1935 in Kraft trat.

In dem am 21. Juni 1938 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires unterzeichneten Friedensvertrag wurden Paraguay achtzig Prozent des umstrittenen Gebiets zugeschlagen, der Rest fiel an Bolivien. Auf bolivianischer Seite kamen etwa 52.000, auf paraguayischer Seite 36.000 Soldaten ums Leben. Bei einer damaligen Bevölkerung von geschätzten drei beziehungsweise einer Million Einwohnern ein gewaltiger Aderlaß.