© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Abschied vom globalen Dorf
Die „große Ungerechtigkeitsmaschine“ stottert / Impressionen aus einer Debatte
Dirk Glaser

Leere Regale im ersten Corona-Frühjahr 2020, dort, wo „beim Aldi“ gewöhnlich das Toilettenpapier lag, ließen auch Otto Normalverbraucher ahnen, mit welchen Risiken die „Globalisierung“, die nach dem Ende des Kalten Krieges immer dichter gewordene Vernetzung der Volkswirtschaften des Planeten Erde verbunden ist. Das „chinesische Virus“ (Donald Trump) legte die Schwachstellen überlanger, marktgestalteter Lieferketten aber auf einem mitten in der Pandemie noch weitaus „systemrelevanteren“ Konsumsektor als dem der Hygieneartikel offen: bei der Versorgung mit Medikamenten. Auch wo deren Herstellung in den reichen Verbraucherländern verblieben war, zeigte sich, daß diese in der hyperglobalisierten Ökonomie von Vorprodukten abhing, die meist aus China und Indien stammten. Als sie nach Ausbruch der Pandemie ausblieben, wurde in den USA und Europa selbst das Allerweltsschmerzmittel Paracetamol knapp. 

Trumps Administration und ihr folgend die britische Regierung unter Boris Johnson zögerten daher nicht, staatliche Maßnahmen zur Sicherstellung der Medikamentenversorgung durchzuführen, die mit den Maximen einer entnationalisierten, globalisierten Billiglohnökonomie deutlich über Kreuz lagen. Trotzdem weisen diese protektionistischen Eingriffe, denen weltweit viele zur Wiederherstellung „nationaler Widerstandsfähigkeit unter Krisenbedingungen“ folgten, voraus auf das, was sich seither für den Soziologen Wolfgang Streeck, bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftslehre in Köln, in einst eifrig „deregulierten“ Wirtschaftsbereichen vollzieht: der Einstieg in den Ausstieg aus der ökologisch nicht nachhaltigen, sozial nicht gerechten, politisch mit Demokratie unvereinbaren neoliberalen Ökonomie des globalisierten Kapitalismus („Zwischen Globalismus und Demokratie“, Berlin 2021).  

Weiterhin werden Unternehmen nationale Differenzen ausnutzen

Christoph Scherrer, bis zum Sommersemester 2022 Professor für Globalisierung und Politik an der Universität Kassel, sieht hingegen mit Blick auf die russische Ukraine-Intervention, der nach Corona zweiten Zäsur welthistorischen Formats in diesem noch jungen Jahrzehnt, das die Globalisierung „massiv unterbrochen“ habe, keine wirtschaftspolitische Zeitenwende heraufziehen (Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2022). Richtig sei zwar, daß beide Ereignisse Konzernspitzen dazu bewogen, ihre bisherigen globalen Auslagerungs- und Lieferkettenstrategien zu überdenken. Ihre unternehmerische Aufmerksamkeit richte sich nun auf robuste, weil verkürzte Lieferketten. Einen Trend weg von international vertiefter Arbeitsteilung und globalistischer Zentralisierung, wie ihn Streeck erkennen will, sieht Scherrer hingegen nicht. Gegen ein solches Zurück zur „Kleinstaaterei“ (Jürgen Habermas) spreche schon die historische Erfahrung. 

Selbst wenn die Entwicklung hin zur „Abschottung“ durch den Ukraine-Krieg weiter forciert werden sollte, lehre das Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929, die einen „empfindlichen Rückschlag“ auslöste, daß die Globalisierung nicht aufzuhalten sei, weil sie seit ihrer Geburtsstunde im 16. Jahrhundert dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip gehorcht, das die Wettbewerber auf ihrer Suche nach Rohstoffen, Arbeitskräften und Absatzmärkten zu grenzüberschreitender Expansion nötigt. Nicht einmal zwei Weltkriege hätten dieses Prinzip außer Kraft gesetzt. Daher mußten die Versuche der fortgeschrittenen Industrienationen Deutschland und Japan scheitern, in autarken Großwirtschaftsräumen dem angloamerikanisch beherrschten Weltmarkt zu trotzen.

Scherrer erinnert daran, daß voreilige Abgesänge auf die Globalisierung zuletzt während der großen Finanzkrise von 2008 ertönten. Seitdem sank der Anteil von Importen und Exporten am globalen Bruttosozialprodukt tatsächlich von ehedem über 60 auf 50 Prozent. Insgesamt aber übertraf das globale Handelsvolumen trotz Corona 2021 jenes von 2019 um neun Prozent. Auch deshalb, weil das System flexibel genug sei, auf gegenläufige Tendenzen zu reagieren. So führten die US-Strafzölle auf Einfuhren aus China nicht zu einer allgemeinen Senkung des Imports, sondern zu einer teilweisen Verlagerung zugunsten Vietnams. Zugleich laufen ohne Irritationen weiterhin Verhandlungen über Handelsliberalisierungen. Der amtierende US-Präsident, der Demokrat Joe Biden, wandle dabei übrigens auf den Pfaden seines republikanischen, zum Protektionismus neigenden Vorgängers Trump. Der habe mit der Revision des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta den Handel mit Kanada und Mexiko nicht etwa eingeschränkt, sondern liberalisiert. Bidens neuer Vertrag mit beiden Staaten nehme lediglich arbeitsrechtliche Korrekturen zugunsten der Beschäftigten vor. 

In Europa ändere sich ebenfalls wenig an der Generalrichtung wirtschaftlicher Vernetzung. Schon deshalb nicht, weil heute der größte Teil der Lieferketten regional orientiert ist. So produzieren viele der wichtigsten deutschen Unternehmen in EU-Mitgliedsstaaten. Zulieferer außerhalb der Union halten nur einen Bruchteil an der Wertschöpfung von Endprodukten in der EU, angeführt von den USA mit kümmerlichen zwei Prozent (2019), gefolgt von China mit 1,3 Prozent. Eine „Verkürzung von Lieferketten“ in Europa wirke sich auf den internationalen Handel kaum aus. Daher glaubt Scherrer die Prognose wagen zu können: „Solange der Krieg um die Ukraine sich nicht zu einem Dritten Weltkrieg entwickelt, wird das Konkurrenzprinzip Unternehmen weiter dazu veranlassen, grenzüberschreitend zu expandieren und nationale Differenzen auszunutzen.“

Ganz anders fällt die Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Globalisierung jenseits der verengten ökonomischen, auf Handelsströme und Investitionen fixierten Perspektive aus. Denn schließlich sei die Globalisierung, gibt der New Yorker Journalist David Brooks zu bedenken, immer auch ein „politischer, sozialer und ethischer Prozeß“ gewesen. Zum Zweck der „Modernisierung der Welt“ auf der Basis des westlichen Lebensstils (Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2022). An diese von Fortschritt und Annäherung bestimmte Vision der historischen Entwicklung habe er auch lange geglaubt. „Leider beschreibt diese Vision nicht die Welt, in der wir leben.“ Die folge seit 1989 nämlich nicht der Globalisierung als dominanter „Logik der Weltpolitik“. Denn sie rückt nicht näher zusammen, sie driftet auseinander, nicht zuletzt, weil sich das globalistische „Ordnungsmodell“ als eine von der US-Finanzelite aufgebaute „große Ungerechtigkeitsmaschine“ entpuppt habe. 

Es gibt eine wachsende Divergenz zwischen vorherrschenden Werten

Die Theorie der Globalisierung, daß daraus eine „Weltkultur“ auf der Basis „liberaler Werte“ entstehen werde, sei daher gründlich widerlegt. Zumal Europa und Nordamerika unter dem Einfluß der LGBTQI-Lobby „die Welt“ nicht mehr einigend anziehe, sondern spaltend abschrecke. Diese „Kultur“ entferne sich immer weiter von den anderen Weltkulturzonen und rage nun wie eine fremde kulturelle Halbinsel aus dem Gefüge heraus. Eine jüngste Umfrage des World Values Survey zu den normativen und kulturellen Überzeugungen in verschiedenen Weltzonen zeige, daß es bei den Themen wie Heirat, Familie, Geschlecht und sexuelle Orientierung eine wachsende Divergenz zwischen den vorherrschenden Werten in ärmeren und reicheren Ländern gibt. „Wir im Westen sind seit langem statistische Ausreißer; jetzt wird unser Abstand zum Rest der Welt immer größer.“   www.blaetter.de