© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Konstruierte Kontinuitäten
Kolonialismusdebatte: Polen als Preußens Hereros
Oliver Busch

Auch das EKD-Organ zeitzeichen möchte auf der mächtig tosenden Kolonialismus-Welle reiten. Um die „gesellschaftliche Debatte“ über „unseren Kolonialismus“ zu befeuern, kompilierte die Redaktion daher ein Themenheft, das fachkundige Autoren mit Beiträgen etwa über die Rückgabe von „Kulturgegenständen aus kolonialen Kontexten“ oder über „Koloniale Überlegenheitsphantasien weißer Theologen“ bestreiten (7/2022). Fachkundig kann man den Aufsatz von Mark Terkessidis, der unter dem Titel „Von Bismarck zu Hitler“ wohl als geschichtliche Einführung gedacht ist, allerdings kaum nennen.

Denn statt eine solche zu liefern, will der Verfasser, kein Historiker, sondern ein im linksliberalen Milieu von taz, Tagesspiegel, Zeit und Deutschlandfunk seit Jahrzehnten agitierender Pädagoge mit den Arbeitsschwerpunkten „Jugend und Popkultur, Migration und Rassismus“, die aktuell üppig ins Kraut schießende Erinnerungskultur zur kaiserzeitlichen Kolonialepisode mit der „kolonialen Landnahme“ Preußen-Deutschlands verschränken. Dessen „Territorialstrategie“ beginnt für diesen Ahnungslosen nach der Dritten Teilung Polens im Jahr 1795 und mündet stracks in die nationalsozialistische Eroberung von „Lebensraum im Osten“. 

Von 40prozentiger polnischer Minderheit Preußens fabuliert

Um seine aberwitzige Kontinuitätskonstruktion nicht als pures Märchen erscheinen zu lassen, mixt der einstige WDR-Redakteur ständig rare Fakten mit vielen Fiktionen. So behauptet er, von acht (korrekt 9,5) Millionen Einwohnern Preußens um 1800 hätten drei Millionen Polnisch gesprochen, um zu suggerieren, es habe bis 1918 eine fast 40prozentige polnische Minderheit existiert. Die bestand tatsächlich nur bis 1809, als Preußen den eigentlich polnischen Zugewinn der Dritten Teilung an das Herzogtum Warschau abgeben mußte, einem Satellitenstaat Napoleons. Preußen blieb nach dem Wiener Kongreß als mehrheitlich von Polen bewohnt nur die Provinz Posen. Aber auch die Polen dort, ebenso wie jene in Westpreußen, Masuren und Oberschlesien, lebten bis 1918 als preußische Staatsbürger nie auf dem Niveau von nichtweißen „Kolonisierten“. Seit 1849 wahrten sie ihre Rechte im Preußischen Landtag, seit 1871 im Reichstag. Zugleich vollzog sich über Schule und Militär ein Prozeß der Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur, der bis 1914 weitgehend abgeschlossen war. Das bewies nicht zuletzt 1920 die Volksabstimmung in Ostpreußen, als sich 95 Prozent der Masuren dagegen entschieden, Bürger des neuen polnischen Nationalstaates zu werden. Erst die NS-Politik im besetzten Polen brach brutal mit diesem Assimilierungskurs. Aber selbst das war kein Rückfall in „koloniale“ Praktiken, sondern deren Pervertierung. Denn für Polen, so zitiert Terkessides Heinrich Himmler, sei „Lesen nicht erforderlich“. Die vom Ethos des „Kulturbringers“ erfüllte wilhelminische Kolonialverwaltung hingegen hat eine solche Barbarei nie erwogen.