© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Rechtfertigungen
Egon Krenz blickt zurück
Jörg Bernhard Bilke

Man erinnert sich noch an das vor Glück strahlende Gesicht des SED-Funktionärs Egon Krenz, als er am 18. Oktober 1989 als Nachfolger Erich Honeckers zum SED-Generalsekretär ernannt worden war und sechs Tage danach auch noch zum Staatsratsvorsitzenden. Sieben Wochen später, am 6. Dezember, wurde er jedoch aller seiner Ämter enthoben und schließlich von Gregor Gysi aus der SED/PDS ausgeschlossen.

So tief wie Egon Krenz fällt man selten! Geboren am 19. März 1937 als Schneidersohn in Kolberg/Hinterpommern, floh er mit seiner Mutter nach Damgarten in Vorpommern. Seit seinem Beitritt zur FDJ 1953 und zur SED zwei Jahre später ging es nur noch bergauf. Er besuchte bis 1957 das Institut für Lehrerbildung in Putbus auf Rügen und war  bis 1959 im nahen Prora freiwillig Soldat der NVA. In Moskau erwarb er auf der Parteihochschule ohne Abitur den Titel eines Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers. Sein Aufstieg 1983 bis ins höchste Machtzentrum, das Politbüro, schien unaufhaltsam, bis der SED-Staat im Herbst 1989 kollabierte.

Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall versucht nun der SED-Rentner, der heute zurückgezogen in Dierhagen an der Ostsee lebt, sein politisches Wirken zu rechtfertigen. Inzwischen sind die Archive aus vierzig Jahren DDR-Geschichte geöffnet, Dutzende von Zeitzeugen befragt, wissenschaftliche Aufarbeitungen geschrieben worden, die den SED-Staat, trotz aller ideologischen Verklärung, als blutige Diktatur erscheinen lassen, die zur Machtabsicherung Hunderte ihrer Bürger an der innerdeutschen Grenze hat erschießen lassen.

Die Schwierigkeit seiner heutigen Sicht auf die Vergangenheit besteht darin, daß er zwischen zwei Polen pendelt: zwischen der alten Ideologie, der er nach wir vor verhaftet ist, und der widerwilligen Anerkennung der Verbrechen, die Kommunisten im „Klassenkampf“ verübt haben. Ein Beispiel: Über Stalins Tod am 5. März 1953 schreibt er: „Ich war wie gelähmt, fühlte mich auf einmal verwaist.“ Später spricht er von „Stalins Verbrechen“, entschuldigt sie aber sofort: „weil es gesellschaftliche Umstände gab, die sein Handeln begünstigt hatten“.

Solche verqueren Argumentationen durchziehen das ganze Buch! Daß es in der DDR vierzig Jahre hindurch keine freien Wahlen gab, verschweigt er; daß die christliche Junge Gemeinde 1952/53 gnadenlos verfolgt wurde, kommt nicht vor; die Berufsverbote, die Massenverhaftungen, die „Zersetzung“ von Regimegegnern, die Fluchtbewegung aus dem Mauerstaat sucht man vergebens in diesem Buch, das im Jahr 1974 endet. Im Folgeband, den Egon Krenz schon angedroht hat, wird er auch von der „chinesischen Lösung“ sprechen müssen, die er 1989 bei den Leipziger Demonstranten anwenden wollte. Man darf gespannt sein.

Egon Krenz: Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen. Verlag Edition Ost, Berlin 2022, gebunden, 288 Seiten, 24 Euro