© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Die Russen und das Baltikum
Handle nach der Lage!
Matthias Bäkermann

Im Baltikum werden die Töne schroffer und die Gesten handfester. Im estnischen Narwa wurde jüngst in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein sowjetisches Denkmal abgeräumt, zuletzt ebenso in Riga. Das lettische Parlament, die Saeima, stufte im Juli die Russische Föderation gar als „Terrorstaat“ ein. Alle Ereignisse richten sich an denselben Adressaten: Wladimir Putin. 

Denn durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine sowjetischen Großmachtphantasien hat Rußlands Aggressor ein altes Trauma bei den Völkern zwischen Memel und Finnischem Meerbusen wachgeküßt. Die Angst vor der Herrschaft aus Moskau ist historisch tief verankert, sie reicht zurück bis Zar Iwan dem Schrecklichen und wirkte besonders nach Stalins Okkupation prägend, dessen sowjetisches Joch Esten, Letten und Litauer erst 1991 abschütteln konnten. Bei ihrer aktuellen Traumatherapie hilft das Bewußtsein, als Teil der Nato auf Schutz und Beistand hoffen zu dürfen.

Doch den baltischen Freunden sei geraten: Handle nach der Lage! Und die könnte bald ziemlich ungemütlich werden, dafür muß Putin nicht einmal seine Panzer über die Grenze rollen lassen. Eine gedemütigte große russische Minderheit – in Narwa sogar die Mehrheit, in Riga fast gleichstark zur lettischen Bevölkerung – könnte sich rasch zu einer subversiven fünften Kolonne formieren, schon jetzt tagtäglich mit Kremlpropaganda übers Fernsehen und Internet abgefüttert. Eskalieren Töne und Gesten im Baltikum weiter, könnte dieser gesellschaftliche Sprengsatz zünden. Dagegen würde selbst das Brüsseler Bündnis nicht viel ausrichten.