© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Das Band zerfällt
Demographie: Schon jetzt hat Migration das Land von Grund auf umgekrempelt
Michael Paulwitz

Wenige Faktoren, die über die Zukunft ganzer Länder, Nationen und Volkswirtschaften entscheiden, sind so vorhersehbar und langfristig zu beobachten wie der demographische Wandel. Und wenige Schicksalsfragen werden so zuverlässig von politisch Verantwortlichen und gesellschaftlichen Akteuren ignoriert wie eben die Demographie. Werden die Probleme schließlich doch zur Kenntnis genommen, müssen sie vor allem als Projektionsfläche für Interessenpolitik herhalten.

Zuletzt war es das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das sich mit einem Alarmruf vernehmen ließ: Mit dem absehbaren Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsleben drohe die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis 2035 um rund drei Millionen auf dann nur noch gut 50 Millionen Einwohner zu schrumpfen. Die Folge: eine dramatische Zuspitzung des Arbeitskräftemangels. 

Um das zu erkennen, hätte es freilich keiner aufwendigen Studie bedurft. Wer die Grundrechenarten beherrscht, konnte die kombinierten Auswirkungen von Geburtenrückgang, steigender Lebenserwartung, Bildungskatastrophe und Sozialmigration seit Jahrzehnten selbst abzählen. 

Wenn die „Baby-Boomer“, also die kinderreichen Jahrgänge von den frühen fünfziger bis zu den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, mit Erreichen des Rentenalters von Steuer- und Beitragszahlern zu Transferempfängern werden, verschiebt sich das Verhältnis von Einzahlern zu Beziehern von Leistungen unerbittlich zu Lasten der nachrückenden Generationen. Die sind im Schnitt nur noch halb so zahlenstark und weisen dazu einen höheren Anteil an Geringqualifizierten sowie von Sozialleistungen Abhängigen auf. Entweder also müssen die Leistungen drastisch reduziert oder die Abgaben in unerträgliche Höhen geschraubt werden – oder eine Kombination aus beidem.

Politikern und Sozialideologen fällt darauf seit Jahrzehnten nur eine Antwort ein: Es brauche mehr Zuwanderung, um die Lücken in den Generationen durch Migranten zu ersetzen. Auch das IW singt diese Melodie: Anderthalb Millionen müßten jährlich zuziehen, um trotz Abwanderung in Millionenhöhe einen Saldo von einigen hunderttausend Neuzuwanderern zu erreichen. 

Die Milchmädchenrechnung liegt auf der Hand, wenn schon die millionenfache Massenzuwanderung der vergangenen Jahre den „Fachkräftemangel“ nicht beheben konnte und das Heer der Sozialleistungsbezieher nur noch verstärkte. Der Köhlerglaube an die Lösung demographischer Probleme durch Migration ignoriert nicht nur die Komplexität der Wirklichkeit. Menschen sind mehr als austauschbare Produktions- oder Wirtschaftsfaktoren. Sie bringen ihr eigenes ethnisches, kulturelles und soziales Reisegepäck mit. Migration in die Sozialsysteme wird eine alternde und schrumpfende Erwerbsbevölkerung nicht ersetzen können. 

Schon in ihrer jetzigen Dimension, in der Jahr für Jahr die Einwohnerschaft einer Großstadt aus dem nichteuropäischen Raum nach Deutschland einwandert, hat die Migration das Land von Grund auf umgekrempelt. Siedlungsstrukturen und Straßenbilder verändern sich dramatisch. Beträchtliche soziale Verwerfungen und Transformationen sind inkludiert. Der alternden deutschen Noch-Mehrheitsbevölkerung, die sich mit zunehmenden Lebensjahren weiter aus dem öffentlichen Raum zurückzieht, wird die Heimat vielerorts bereits zur Fremde. 

In den nachrückenden, zahlenmäßig schwächeren Jahrgängen steigt das relative Gewicht der Bevölkerung mit ausländischem Paß oder „mit Migrationshintergrund“ – der Begriff ist unscharf und verschleiernd, da er nicht nach Herkünften aus unterschiedlichen Kulturräumen differenziert. Durch eine hohe und politisch forcierte Rate an Einbürgerungen verändert sich zudem die Zusammensetzung des Staatsvolkes. Nur rund ein Viertel der Neubürger hat die Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Landes. An der Spitze stehen türkische Staatsangehörige und seit neuestem Syrer, die vor allem seit dem Kontrollverlust von 2015 in großer Zahl ins Land strömten. Sie erfüllen bereits jetzt die stetig gesenkten Einbürgerungsvoraussetzungen.

Die faktische Transformation der Wohnbevölkerung bedeutet vielfach nicht, daß auch gesellschaftliche Werte mit übertragen würden. Im Gegenteil, die Selbstabwertung und Verachtung des „alten weißen Mannes“, des westlichen Menschen an sich, gehört in diskursbeherrschenden Kreisen zum politisch korrekten Ton. Der ethnische Umbau der Gesellschaft gilt als erstrebenswert, während die kritische Benennung dieser Entwicklung zur „Verschwörungstheorie“ tabuisiert wird.

Der drohende „Kulturabbruch“, vor dem der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg wiederholt als Konsequenz aus Überalterung, Kindermangel und Massenmigration gewarnt hat, ist vielerorts schon Tatsache. Wie angesichts der fortschreitenden ethnischen und kulturellen Zersplitterung in künftigen Generationen noch ein das Gemeinwesen verbindender Leitgedanke möglich sein soll, ist verglichen mit der absehbaren Überforderung der Renten-, Gesundheits- und Sozialsysteme die noch weitaus gravierendere demographische Herausforderung.

Dabei handelt es sich nicht um ein spezifisch deutsches Problem, auch wenn der nationale Selbsthaß hier besonders ausgeprägt sein mag. Während der asiatische Raum bei rund der Hälfte der Weltbevölkerung stagniert, ist der Anteil Europas im letzten halben Jahrhundert von gut zwanzig Prozent auf weniger als ein Zehntel geschrumpft. Er sinkt weiter, während die Bevölkerung Afrikas rasant wächst. Der Migrationsdruck bleibt also hoch und wird noch steigen. 

Die Kapitulation vor dieser Wucht kann schon aufgrund der Zahlenverhältnisse nicht die Antwort auf die demographische Herausforderung sein. Alternative Modelle sind möglich: Japan versucht es mit Abschottung und strikter Konzentration auf den nationalen Wohlstand. Norwegen häuft Rohstoff- und Exporterlöse zur Stabilisierung der Sozialkassen an. Ungarn versucht mit gezielter Bevölkerungspolitik die langfristige Trendwende durch Hebung der Geburtenrate. Keiner dieser drei Wege wird allerdings in der deutschen Politik auch nur ernsthaft diskutiert.