© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

„Es ist bestürzend“
Thilo Sarrazin: Ist die Rationalität auf dem Rückzug? Droht uns ein ideologisches Zeitalter? In seinem neuen Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“ warnt der bekannte Bestsellerautor vor „Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens“
Moritz Schwarz

Herr Dr. Sarrazin, wer sind die „Feinde der Vernunft“?

Thilo Sarrazin: Jene, die nicht mit freiem Blick auf die Wirklichkeit schauen, sondern mit geistigen Scheuklappen vor allem danach suchen, eigene ideologische Vorurteile zu bestätigen.

Tun das nicht alle Menschen? 

Sarrazin: Nein, aber viele, denn es ist bequem. Man setzt sich die Brille des Marxisten, des woken Multikulturalisten oder etwa des Nationalisten auf und nimmt nur die Fakten zur Kenntnis, die zum eigenen Weltbild passen.

Der Titel Ihres neuen Buches „Die Vernunft und ihre Feinde“ erinnert an Karl Poppers berühmtes Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“.

Sarrazin: Poppers tiefgründige Analyse zeigt, wie zum Beispiel das Denken in der Tradition von Hegel und Marx die Freiheit gefährdet, weil es zu einer geschlossenen Gesellschaft mit utopischer Zielsetzung führt. Vielfältig auf Popper Bezug nehmend zeigt mein Buch die Gefährdungslage für die Vernunft in unserer Gesellschaft heute auf. Die Bereitschaft zur geistig offenen Auseinandersetzung mit den Fakten und Wirklichkeiten der Gesellschaft verliert an Boden, und statt dessen nehmen ideologische Denkmuster zu. Diese Gefahr besteht sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums. 

Sie meinen, die Vernunft ist also nicht auf einer politischen Seite zu Hause, egal ob links, rechts, Mitte?

Sarrazin: Ja, egal welcher politischen Richtung man angehört, jeder von uns kann in die ideologische Falle tappen. Tatsächlich bedarf es innerer Disziplin, sich geistige Offenheit zu bewahren! In meinem Buch gehe ich alle „Ismen“ durch, vom religiösen Fundamentalismus über den klassischen politischen Extremismus bis zum aktuellen „Postkolonialismus“. Und ich zeige, daß es Verabsolutierung und Abkoppelung von der Realität sind, die eine Ideologie ausmachen, und nicht der Standort im politischen Spektrum. So hatten etwa Marx und Engels ja ein berechtigtes Anliegen, als sie kritisierten, daß im Kapitalismus ein großer Teil der Menschen ausgebeutet wurde. Zur Ideologie wurde ihre Kritik erst, als sie die kapitalistische Wirtschaft zum Dreh- und Angelpunkt ihres geschichtlichen Denkens und deren Abschaffung zum Gegenstand einer utopischen Verheißung machten. Anderes Beispiel: Die Wertschätzung von Kultur und Tradition des eigenen Volkes im Sinne Johann Gottfried Herders und eine sich daraus ergebende nationale Gesinnung sind völlig legitim. Doch wie beim Marxismus-Beispiel kann auch hier durch quasireligiöse Überhöhung die Grenze zur Ideologie überschritten werden.

Wo genau liegt diese Grenze zwischen legitimer politischer Weltanschauung und Ideologie?

Sarrazin: Eine Ideologie stellt ihre Fragen an die Welt so, daß sie ihre Perspektive verengt und den objektiven Blick auf sie ausschließt. Das entscheidende Kriterium dafür, ob man seine politische Weltanschauung – bewußt oder unbewußt – zu einer Ideologie engführt, ist der kritisch-rationale Blick, dem ich in meinem Buch ein eigenes Kapitel widme. 

Sie meinen, ob man seine Weltanschauung unter oder über Fakten, Zahlen und rationales Denken setzt?

Sarrazin: Richtig. Wenn man Armut zum Beispiel als Verteilungsökonom kritisiert oder als Sozialarbeiter bekämpft, ist das völlig legitim. Wenn man aber wider die Daten behauptet, daß die Wohlstandsverteilung in Deutschland immer ungerechter werde, ist es das nicht mehr. Das gleiche gilt, wenn man politisch gegen Atomkraft eintritt – aber nicht mehr, wenn man verbreitet, diese sei besonders tödlich, obwohl sie die Energieform ist, die bisher mit Abstand die wenigsten Toten verursacht hat. Durch die Verweigerung eines sachgeleiteten geistigen Dialogs kann – wenn sich das in einer Gesellschaft zu weit ausbreitet – der Fortschritt zum Erliegen kommen.

Wie stark ist die Vernunft bei uns inzwischen gefährdet?

Sarrazin: Ich werde Ihnen darauf keine mathematische Antwort geben. Aber wir sehen es daran, daß ein Dialog in weiten Teilen der Gesellschaft gar nicht mehr stattfindet, etwa bei Themen wie Einwanderung, Islam, Gender etc. 

Über Einwanderung und Islam wurde einige Zeit sehr viel diskutiert und wird es, wenn auch weit weniger intensiv, heute immer noch – und das Thema Gender ist doch derzeit in aller Munde. 

Sarrazin: Gemeint ist ein freier Dialog. In Öffentlichkeit und Medien herrscht bei solchen Themen dagegen ein enger Meinungskorridor. Wagen Sie es, diesen zu verlassen, und bezweifeln etwa – gestützt auf Zahlen und Daten –, daß Einwanderung Deutschland bisher mehr gekostet als genutzt hat  oder daß der Islam – anders als einzelne moslemische Bürger – nicht zu Deutschland gehört, oder daß die Gendertheorie keine Wissenschaft, sondern Phantasie ist, werden sie zumeist von vornherein aus dem Dialog ausgeschlossen. 

Sie sehen eine Zunahme von Ideologie und ein Abnehmen der Vernunft, wollen aber nicht sagen, welches Ausmaß das erreicht hat. Doch ist die entscheidende Frage nicht: Nähern wir uns bereits gefährlich dem Kippunkt, der aus einer offenen, rationalen Gesellschaft eine geschlossene, ideologische macht? 

Sarrazin: Mit solchen historischen Großanalysen sollte man vorsichtig sein. Jedoch würde ich sagen, daß der Verbreitungsgrad der Rationalität in der Bundesrepublik wohl in der Zeit von den späten Fünfzigern bis in die sechziger Jahre am größten war. Mit den Achtundsechzigern kam dann wieder eine ideologische Bewegung auf, und seitdem nehmen entsprechende Denkmuster zu, was sich in den letzten Jahren nochmals verstärkt hat. Dabei ist das kein auf Deutschland beschränktes Phänomen. Vielmehr gehen viele große geistige Irrtümer, die zur Ausbildung von Ideologien führen, von französischen Denkern aus, deren Ideen in den USA umgearbeitet und populär werden. Auf dem Umweg über den angelsächsischen Raum kommen sie zurück zu uns nach Kontinentaleuropa. 

Zum Beispiel? 

Sarrazin: Die außer Rand und Band geratene Rassismus-Theorie oder die Gender-Ideologie oder der Postkolonialismus etc. Warum das alles ausgerechnet aus Frankreich kommt, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich meine, es könnte mit dem Einfluß des bedeutenden französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau zu tun haben, der auf jeden Fall eine große Rolle spielt. Sein Denken zählt zu den großen geistigen Irrtümern, da er wesentlichen Anteil an der Vorstellung hat, der Mensch sei im Grunde von Natur aus gut. Daraus entwickelte sich die Logik, daß man dann ja nur alle Bösen umbringen müsse, um die Welt besser zu machen. Was schließlich zu den Verirrungen der Französischen Revolution führte. Der nächste große geistige Irrtum war wohl der französische Existentialismus, der einen objektiven Wahrheitsbegriff verneinte und die Gefühlswelt des einzelnen in den Mittelpunkt stellte. In ihm vermischten sich französisches und deutsches irrationales Denken. Den dritten großen Irrtum stellen wohl die Theorien von Michel Foucault und Jacques Derrida dar, die darauf hinauslaufen, daß es gar keine Wahrheit gibt, sondern daß diese nur eine gesellschaftliche Funktion der Macht ist. Das aber ist eine Verneinung der methodischen Ausgangsbasis der gesamten modernen Naturwissenschaften! 

Sie meinen, diese Art zu denken führte dann zum Beispiel dazu, daß jemand wie die einflußreiche amerikanische feministische Philosophin Judith Butler postulierte, Geschlecht sei nur ein gesellschaftliches Konstrukt.

Sarrazin: Ja, das war einer der Einflußfaktoren, was in einer aktuellen Konsequenz nun dazu führt, daß die gegenwärtige Ampel-Regierung eine Änderung des Personenstandsgesetzes vornimmt, nach der jeder einmal im Jahr seinen Geschlechtseintrag ändern lassen kann.

In Ihrem Buch unterziehen Sie unter anderem die Koalitionsvereinbarung der Ampel einem Ideologie-Check. 

Sarrazin: Ich wollte wissen, wie stark Ideologie tatsächlich schon in unsere Politik eingesickert ist.  Ich sage gleich, auf gar keinen Fall kann man den gesamten Vertrag als ideologisch abqualifizieren. Aber es ist schon bestürzend, daß sich überhaupt ideologische Momente darin finden, denn schließlich ist es die Grundlage für die deutsche Regierungspolitik! Welche Momente das im einzelnen sind, finden Sie im letzten Kapitel meines Buches. 

Zum Beispiel, wie Sie schreiben, daß die Begriffe Vater und Mutter so gut wie nicht zu finden sind.

Sarrazin: Und das, obwohl sie die Grundpfeiler der wichtigen sozialen Konstruktion zum gelingenden Aufziehen von Kindern – der Familie – sind! Hinzu kommt, daß der Koalitionsvertrag etwa „Fremd-Insemination“ – künstliche Befruchtung – von den Kassen bezahlen lassen will. Das zeigt, wie sehr das Regierungsprogramm der Ampel von tiefem Mißtrauen gegenüber der natürlichen Zeugungsmethode getrieben ist. Um jeden Preis möchte man Alternativen dazu fördern. Und letztlich ist es das Ziel, den Begriff der Familie von seiner biologischen Herkunft, als der für die Zeugung von Kindern offenen Gemeinschaft von Mann und Frau, zu lösen. Dazu paßt auch der Satz im Koalitionsvertrag, Familie sei dort, „wo Menschen füreinander Sorge tragen“. Was natürlich völliger Unfug ist, da das ebenso auf einen Offizier der Bundeswehr und die ihm anvertrauten Soldaten zutrifft.

Der Journalist Jan Fleischhauer meinte jüngst im Interview mit dieser Zeitung, eine wirkliche Gefahr gehe von der gegenwärtigen Ideologisierung für unsere Gesellschaft nicht aus, da die Bürger sie letztlich nicht annehmen würden. Gibt er zu Recht Entwarnung?  

Sarrazin: Nun, jeder ist so entspannt, wie er es sein möchte. Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch, ich prophezeie nirgends den völligen Untergang der Freiheit. Ich weise in meinen Büchern stets auf Risiken hin, aber ich sage darin nicht die Zukunft vorher! Auch dann nicht, wenn etwa die Risiken, die ich 2010 in „Deutschland schafft sich ab“ aufgezeigt habe, nicht nur voll umfänglich eingetreten sind, sondern sich sogar noch stärker geltend gemacht haben als von mir angenommen.

Im neuen Buch listen Sie Gruppen auf, von denen nach Ihrer Ansicht Irrationalismus ausgeht, darunter auch „‘Querdenker’ und esoterische Impfgegner, (die) die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen Corona anzweifeln“. Doch inwiefern ist das irrational, da inzwischen offiziell ist, daß deren Wirksamkeit fern von dem ist, was versprochen wurde, und sogar so gering, daß strenggenommen die Definition einer Impfung nicht mehr erfüllt ist. Was allerdings auch nicht heißt, daß sie gar keine Wirkung haben.

Sarrazin: Ich liste nicht Gruppen auf, sondern Denkstile, die in der Gefahr der Ideologisierung stehen oder ihr schon erlegen sind. Zu ideologiefreiem Denken gehört auch, sich nicht über alles ein eigenes Urteil anzumaßen, sondern dort, wo man sich ehrlicherweise gestehen muß, an den Grenzen der eigenen Urteilskraft angekommen zu sein, auf die überwiegenden Einschätzungen von dazu vorgebildeten Experten zu hören. Sonst kommt man in die Rolle jener Besserwisser, die seit hundert Jahren bis heute unermüdlich Einsteins Relativitätstheorie anzweifeln, ohne daß sie die Vorbildung und das Rüstzeug hätten, dazu wirklich ein Urteil abgeben zu können. Und daß es einen besseren Schutz als die Impfung gegen das Coronavirus nicht gibt, ist unter den weitaus meisten Experten völlig unstreitig. Dazu steht nicht in Widerspruch, daß die aktuellen Erkenntnisse zur besten Bekämpfung des Coronavirus teilweise fließend sind und sich im Detail auch immer wieder ändern. Der Wechsel von Versuch und Irrtum ist immer ein Element des Fortschritts wissenschaftlicher Erkenntnis. Interessant ist übrigens, daß die Impfgegner vor allem in Schwaben und Sachsen stark sind. Denn tatsächlich hat Impfgegnerschaft dort Tradition, waren es doch auch Schwaben und Sachsen, die sich bereits 1875 gegen das Reichsimpfgesetz und damit gegen die Pflichtimpfung bei Cholera und Masern wandten. Zum kritischen Denken gehört natürlich immer, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß wissenschaftliche Erkenntnisse auch widerlegt werden können. Das heißt aber nicht, daß jeder dazu berufen ist. Wer von einer Sache nichts versteht, den sollte kritisches Denken dazu führen, den Fachleuten zu vertrauen. 






Dr. Thilo Sarrazin, der Volkswirt, Jahrgang 1945, aufgewachsen in Recklinghausen, war 2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin, dann bis 2010 im Vorstand der Bundesbank sowie von 1973 bis 2020 SPD-Mitglied. Soeben ist mit „Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens“ das neue Buch des mehrfachen Bestsellerautors erschienen.

Foto: Gesellschaftskritiker Sarrazin: „Nicht der Standort im politischen Spektrum macht eine Ideologie aus, sondern Abkoppelung von der Realität und die Verabsolutierung politischen Denkens“