© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Ländersache: Nordrhein-Westfalen
Bald auf dem Trockenen
Paul Leonhard

Aufatmen am Rhein. Deutschlands mächtigster Strom sorgte zuletzt für Unruhe – aber nicht weil er über die Ufer getreten war, sondern im Gegenteil. Der schwarze Zeiger der gelben Pegeluhr in Emmerich kurz vor der niederländischen Grenze zeigte einen historischen Tiefstand an: Pegelstand null. Die Fahrrinne hatte hier nur eine Tiefe von knapp zwei Metern. Inzwischen stieg das Wasser dank jüngster Regenfälle wieder leicht an. 

Trotz dieser positiven Tendenz erwartet die zuständige Behörde vorerst keine nachhaltige Besserung der Wasserstände, eine „Gesamtentwarnung“ wollte der Präsident der deutschen Generaldirektion Wasserstraßen und Schiffahrt in Bonn, Heinrich Witte, nicht geben. Besonders kritisch ist die Situation an der wichtigsten Engstelle bei Kaub, wo die tatsächliche Wassertiefe Ende vergangener Woche bei nur noch 1,32 Meter lag. Auch deswegen zeigen sich der Bundesverband der Deutschen Binnenschiffahrt (BDB) und die Industrie alarmiert. Müßte der Rhein als Europas meistbefahrene Binnenwasserstraße wegen Niedrigwasser längere Zeit gesperrt werden, könnte das für ganze Industriebranchen Produktionsdrosselungen bedeuten. Die Versorgungssicherheit der Industrie wäre gefährdet, so Holger Lösch, Vize-Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).

„Beim aktuellen Wasserstand am Pegel Kaub kann ein Binnenschiff, das üblicherweise rund 4.000 Tonnen Ladung transportieren kann, beispielsweise noch maximal 1.000 aufnehmen“, teilt der BDB mit: Da die Nachfrage nach Transporten per Binnenschiff ohnehin seit Monaten über alle relevanten Gütergruppen hinweg (Kohle, Getreide, Futtermittel, Baustoffe, chemische Erzeugnisse) sehr hoch sei, führe dies gleichzeitig mit den niedrigen Wasserständen zu einer Verknappung des verfügbaren Schiffsraums. So fürchten BASF und Thyssen-Krupp, nicht mehr ausreichend Brenn- und Rohstoffe per Schiff geliefert zu bekommen. Auch Energieversorger wie EnBW und Uniper wären betroffen. 

Schuld daran sind nicht allein die Trockenheit, sondern vor allem die Bundesregierungen. Die bestehenden Engpässe im Wasserstraßennetz, die die Schiffahrt massiv beeinträchtigen, seien seit Jahrzenten bekannt, wettert der BDB und fordert von Berlin, „Maßnahmen mit einem exzellenten Nutzen-Kosten-Verhältnis wie etwa die Vergrößerung der Fahrrinnentiefe am Mittelrhein“ schnellstmöglich umzusetzen. Mit 20 Zentimeter mehr Tiefe könnte ein Güterschiff deutlich mehr Ladung aufnehmen und bei Niedrigwasser deutlich länger in Fahrt bleiben.

Während die Binnenschiffer bis an die Grenze des physikalisch Möglichen die Versorgung der Industrie sicherstellen, beklagt BDB-Präsident Martin Staats, räume der Bund lediglich ein, seinen Verpflichtungen zum Ausbau der Flüsse und Kanäle seit vielen Jahren nicht nachgekommen zu sein. Überdies beabsichtigt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), den Wasserstraßenetat um rund 360 Millionen Euro zu senken. Zweifel daran, daß der Aktionsplan „Westdeutsche Kanäle“ des Bundes noch Gültigkeit hat, plagen auch NRW-Umweltminister Oliver Krischer (Grüne).