© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Das Land aufrichten
Giorgia Meloni: Der neue Popstar der Politszene will Italiens erste Premierministerin werden
Fabio Collovati

Kaum einen Monat vor den Parlamentswahlen sieht es so aus, als würde sich das Rechtsbündnis aus der von Giorgia Melonis geführten Partei Brüder Italiens (Fratelli d’Italia, FdI), der Lega von Matteo Salvini und der konservativen Forza Italia (FI) um den Ex-Premier Silvio Berlusconi nur noch selbst schlagen können. Jüngste Umfragen sagen dem Zusammenschluß zwischen 47 und 49 Prozent voraus, damit hätte er in beiden Parlamentskammern nach dem neuen Wahlrecht eine satte Mehrheit. 

Doch noch ist ein bißchen Zeit und viele Wähler sind unentschlossen. Darauf setzt Enrico Letta, Chef der Sozialdemokaten (Partito Democratico, PD), der in den Umfragen nach der direkten Parteienpräferenz bei 21 bis 24 Prozent liegt. Melonis FdI liegt seit Wochen stabil bei der 25er-Marke. Doch passend zum heißen italienischen Sommer wird der Wahlkampf zunehmend hitziger. 

In der vergangenen Woche sorgte eine Vergewaltigung auf offener Straße für äußerste Erregung. Ein junger Somalier fiel in der norditalienischen Stadt Piacenza über eine 57jährige Ukrainerin her – am hellichten Tage. Ein Anwohner filmte den Überfall, und prompt landete das Video auf der Seite der auflagenstarken Tageszeitung Il Messaggero. Meloni teilte den Clip auf ihren sozialen Kanälen, verbunden mit einer drastischen Warnung vor einer um sich greifenden Migrantenkriminalität. „Ich werde alles tun, um unseren Städten ihre Sicherheit wiederzugeben“, twitterte sie. 

Meloni sieht sich als Garantin der Unterstützung für die Ukraine 

PD-Frontmann Letta war schockiert und sprach von einem „würde- und pietätlosen Akt“. Das wiederum ließ Meloni nicht auf sich sitzen: Letta sei doch derjenige, der „schmutzige Propaganda“ betreibe und „Lügen verbreitet“, das sei „charakteristisch für die abgewirtschaftete Linke“. „Ich habe keinen Grund, mich zu entschuldigen, außer dafür, daß ich meine Solidarität durch die Veröffentlichung eines Videos ausgedrückt habe, das völlig ananymisiert gemacht wurde“, erklärte sie auf einer Veranstaltung in Ancona. „Ist es nicht seltsam, daß ich viel mehr diskutiert werde als der Vergewaltiger?“ fügte sie hinzu. 

Seitdem sich die die telegene Anführerin intern gegen die rechten Alphatiere Salvini und Berlusconi durchgesetzt hat, reiben sich Beobachter im In- und Ausland die Augen. Dabei probt Meloni, die in der vergangenen Legislaturperiode die einzige ernstzunehmende Oppositionspartei gegen die Allparteien-Koalition des Ex-EZB-Bankers Mario Draghi gebildet hat, einen Spagat. Einerseits gibt sie die europafreundliche und gemäßigte Sachpolitikerin. 

Hinsichtlich ihrer Haltung zu Putins Krieg in der Ukraine läßt sie im Gespräch mit der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore keine Zweifel aufkommen: „Bei der Entscheidung, die Ukraine gemeinsam mit allen unseren westlichen Verbündeten entschlossen zu unterstützen, kann es kein Zögern geben. In einer künftigen Mitte-Rechts-Regierung ist die Garantie dafür FdI.“ 

Parallel dazu fordert die Römerin die „sofortige Einrichtung eines Entschädigungsfonds“ zur Bewältigung der Kriegsfolgen, der nicht nur von Europa, sondern auch von den anderen westlichen Partnern, einschließlich der Vereinigten Staaten, finanziert werden müsse. „Wenn wir nicht schnell handeln, werden nicht nur die sozialen Spannungen weiter zunehmen, sondern die Solidarität mit der Ukraine wird sich auflösen. Und das ist ein sehr gefährlicher politischer Effekt, ein Sieg für Putin und Xi Jinping, die weit über die Ukraine hinausschauen“, so Melonis Fazit. 

Andererseits sendet sie aber auch Signale an den äußersten rechten Rand. So präsentierte sie unlängst das Logo ihrer Wahlkampagne mit der in Italien populären und umstrittenen trikoloren Flamme, unter der ein schwarzer Strich zu sehen ist. „Das ist unser Symbol, auf das wir stolz sind“, sagte Meloni und fügte hinzu: „Wir müssen uns für nichts schämen.“ 

Kritiker sagen, die Flamme stehe für die Ewigkeitsflamme auf dem Grab des früheren faschistischen Diktators Benito Mussolini. Der schwarze Strich symbolisiere den Sarg des Duce. „Alles Quatsch“, kontert Meloni, „die Flamme hat nichts mit dem Faschismus zu tun.“ 

Den Sozialdemokraten schwimmen die Felle weg

Die dreifarbige Flamme war das Symbol der früheren neofaschistischen Sozialbewegung MSI. Deren populärer Führer Giorgio Almirante hatte sie entworfen, der genaue Ursprung ist ungeklärt. FdI-Funktionäre erklären heute, es sei das Abzeichen einer Elite-Einheit im Ersten Weltkrieg gewesen. Als das traditionelle Parteiensystem Italiens Anfang der Neunziger nach einer Korruptionsaffäre zerbrach, wandelte Almirante-Nachfolger Gianfranco Fini den neofaschistischen MSI in die nationalkonservative Alleanza Nationale um. Italiens Rechte wurde regierungsfähig, ging später sogar eine Fusion mit der Berlusconi-Partei ein. 

Die Flamme verschwand aus dem politischen Geschehen und wurde erst 2014 wieder angezündet, als Altrechte wie der ehemalige Minister Ignazio La Russa und der frühere Bürgermeister von Rom Gianni Alemanno die FdI gründeten. Sie suchten nach einem freundlichen, telegenen Gesicht für die erste Reihe und würden fündig: Giorgia Meloni betrat die politische Arena. Heute spielen die Altvorderen keine große Rolle mehr, und selbst das rechte Konkurrenz-Doppel Salvini/Berlusconi, das Meloni noch vor Wochen als „das Mädchen“ verspottete, muß neidlos anerkennen, daß ihnen die 45jährige die Show gestohlen hat.

In fast zwei Dritteln der Wahlkreise stehen FdI-Kandidaten oben auf der Liste. Sollten sich die Prognosen erfüllen, hätte Melonis Partei auch innerhalb des eigenen Bündnisses eine satte Mehrheit. Doch ganz so stabil ist der Zusammenschluß nicht. Berlusconi und Salvini mußten zähneknirschend akzeptieren, daß einige ihrer Gefolgsleute auf das offenbar aussichtsreichere FdI-Ticket umgebucht haben.

Das gilt für den Philosophen und Hochschullehrer Marcello Pera, der unter Berlsuconi schon Senatspräsident war. Ebenfalls an Bord der „Brüder“ ist Giulio Tremonti. Der frühere Lega-Mann war Wirtschafts- und Finanzminister in mehreren Regierungen von Berlusconi. Von Forza Italia kommt auch der ehemalige Regionenminister Raffaele Fitto. Mit diesen Personalien sendet Meloni Zeichen ins bürgerliche Lager. 

Doch auf ihren Listen finden sich auch Hardliner, die früher im neofaschistischen „Duce-Fanclub“ Fiamma Tricolore, einer Abspaltung der Alleanza Nationale, aktiv waren. „Meloni betätigt sich als Lumpensammler“, ätzt Sozialdemokrat Letta. Doch dem schwimmen die Felle weg. Trotz intensiver Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, ein großes Mitte-Links-Bündnis zu schmieden. Und so tingelt die Favoritin Meloni unter dem Motto „Pronti a risollevare l’Italia“ („Bereit, Italien aufzurichten“) quer durch die Republik und füllt mit den klassischen Themen Einwanderung, Sicherheit, und Verteidigung der nationalen Souveränität die Marktplätze der italienischen Städte. 

Es gibt T-Shirts und Tassen mit ihrem Konterfei und der Aufschrift „Sono Giorgia“ (Ich bin Giorgia). Die 45jährige ist derzeit der Popstar der italienischen Politszene – und sie könnte tatsächlich die erste Premierministerin des Landes werden.