© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Der Krieg Rußlands macht viele der deutschen Schwächen sichtbar
Wirtschaftliche Illusionen
Werner J. Patzelt

Wirtschaftsverträge schließt man zum wechselseitigen Vorteil. Wer dann einem Vertragspartner mit Wirtschaftskrieg kommt, der muß sich nicht wundern, wenn ihm derlei bald schadet. Besser überlegt man sich vorher, was man durch Sanktionen erreichen will – und wie lange man sie durchhalten kann. Hinter unserer Politik stehen wohl keine Überlegungen dieser Art, sondern bloß politische Reflexe. Wollte man wirklich Rußlands Krieg ersticken – oder nur „ein Zeichen setzen“? Wie aussichtsreich läßt sich ein auf Sieg setzender Kriegsherr allein durch wirtschaftliche Nadelstiche von seinem Tun abbringen? Und merkte niemand, daß unser Lebensstil von Energie aus Rußland abhängig war?

Jetzt brechen erneut deutsche Illusionen zusammen. Krieg sei kein Mittel der Politik mehr, Militärmacht sei für einen Wirtschaftsriesen entbehrlich, internationale Verflechtung sichere Frieden und Wohlstand. Das alles kann so sein – muß es aber nicht. Deutschland praktizierte eine Mischung aus gutem Willen, Arroganz und Feigheit: An unserem jetzigen Wesen könnte die ganze Welt genesen, unserer Wirtschaftsmacht wird niemand widerstehen, und notfalls sind wir lieber rot als tot. Die meisten Deutschen sind nicht mehr seelisch für einen Krieg so gewappnet, wie das die Ukrainer nachweislich und die Polen, Balten oder Finnen höchstwahrscheinlich sind.

Weniger Furcht vor einem kalten Winter gäbe es, hätten wir uns nicht durch den gleichzeitigen Abschied von Kern- und Kohleenergie vom russischen Erdgas abhängig gemacht. Die durch steigende Energiepreise angetriebene Inflation würde uns weniger ängstigen, hätte nicht auch Deutschland durch die Aufweichung des Euro-Stabilitätspakts den Weg zur expansiven Geldpolitik der EZB bereitet. Unser Staat hätte mehr Geld zur Milderung der Sanktionsfolgen, wenn nicht seine Migrationspolitik viele Hunderttausende in die sozialen Sicherungssysteme gesogen hätte, statt sie in unsere Arbeitswelt zu drängen. Deutschlands Politiker hätten weniger Angst vor gesellschaftlichem Aufbegehren, wenn sie nicht schon jahrelang besorgte Bürger lieber geschulmeistert und ausgegrenzt hätten, als ihre Sorgen ernst zu nehmen und über ihre Anliegen redlich zu diskutieren.

Das alles läßt sich nicht mehr korrigieren, wir können nicht mehr unbeschadet ausweichen. Jetzt aus der EU-Solidarität auszuscheren würde unser jahrzehntelanges Lob des Multilateralismus als Versuch, Verantwortung möglichst abzuwälzen, entlarven. Unsererseits die EU vom Sanktionskurs abzubringen erwiese uns als den von Rußland leicht erpreßbaren Schwachpunkt des Westens. Ein „Einfrieren“ des Krieges zu fordern zeigt nur an, wie wenig es uns wirklich juckt, wenn ein Staat Teile eines anderen besetzt. Zum Zweck eines raschen Friedens die Ukraine zu Gebietsabtretungen zu drängen ist der Stil einer Großmacht, die vom Selbstbestimmungsrecht der Völker nichts wissen will.

Und als wichtigster Staat der EU so zu tun, als ginge uns ein Krieg in der Nachbarschaft nichts an, macht uns schlicht lächerlich. Zum Nulltarif kann jeder Haltung zeigen. Sie unter Druck zu bewahren ist etwas anderes. Hoffentlich verspielen wir nicht ganz das Vertrauen in deutsche Seriosität, das durch jahrelang illusionsgetriebene Politik ohnehin schon erschüttert ist.






Prof. Dr. Werner J. Patzelt lehrte von 1991 bis 2019 Politikwissenschaft an der TU Dresden.

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