© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Exportweltmeister am Ende
Stagflation: Die Euro-Abwertung ist kein Segen für Unternehmen und Verbraucher
Dirk Meyer

Am 30. Juni 2002 stand Deutschland in Yokohama im WM-Finale gegen Brasilien, und der Euro war so billig wie vor einer Woche: Er kostete nur 0,9908 Dollar. Deutschland verlor zwar 0:2, wurde aber Exportweltmeister dank der unterbewerteten Währung – so wie es in den VWL-Lehrbüchern steht. Aber wie sieht es heute aus? Vor 20 Jahren betrug die Inflation nur 1,4 Prozent, obwohl die Einführung des Euros als Bargeld im Dienstleistungsbereich zur Preisanhebung („Teuro“) genutzt wurde. Doch rückläufige Preisentwicklungen bei langlebigen Gebrauchsgütern oder Lebensmitteln sowie stagnierende Nettokaltmieten sorgten für einen Ausgleich.

Im zweiten Quartal 2022 stiegen die Verbraucherpreise um 7,6 Prozent, die Reallöhne gingen trotz Tarifzuwächsen um 4,4 Prozent zurück. Im zweiten Quartal 2021 waren die Reallöhne noch um drei Prozent gestiegen. Die Bundesbank hält eine Inflationsrate von zehn Prozent im Herbst für möglich – mehr als in den Ölkrisen der siebziger Jahre. Die gesteigerte Nachfrage nach der Corona-Krise trieb die Preise im Gastgewerbe, bei Reisen und Veranstaltungen hoch. Etwa 70 Milliarden Euro sind bis Ende März 2022 zusätzlich in den Verbrauch geflossen, die in der Lockdown-Zeit mangels Konsummöglichkeiten gespart worden waren. Langfristig steigt die Nachfrage aufgrund des demographischen Wandels im Gesundheits- und Pflegebereich, was ebenfalls Preissteigerungen begründet.

Knappheiten und Konflikte bringen weitere Preissteigerungen

Schließlich wirkt ein Nachfragedruck in Bereichen der Energie- und Klimaanpassungen (Heizungsbau, Haussanierung, Solaranlagen, Wärmepumpen). Gerissene Lieferketten bringen Knappheiten und weitere Preissteigerungen. Hinzu kommt ein allgemeiner, sich mittelfristig eher verstärkender Fachkräftemangel. Am stärksten stiegen aber die Energiepreise: Im Juli 2022 lagen sie um 35,7 Prozent höher als im Vorjahresmonat – trotz des Tankrabatts. Nahrungsmittel wurden „nur“ 14,8 Prozent teurer. Ein dritter Umstand ist die geopolitische Lage, speziell die Energieabhängigkeit vom EU-Ausland und die geographische Nähe des Ukraine-Krieges, der zu Unsicherheiten und zusätzlichen Preisaufschlägen führt.

Sodann spielt als vierter Faktor die EZB-Geldpolitik als Inflationstreiber eine wesentliche Rolle. Im Rahmen ihrer wohl vornehmlich auf die Euro-Hochschuldenstaaten Italien, Portugal, Spanien und Griechenland ausgerichteten Anleiheankäufe hat die EZB ihre Bilanz von 4,3 auf 8,9 Billionen Euro (Juni 2022) ausgeweitet. Ein Großteil dieses Geldes haben Banken als Überschußliquidität bei der Zentralbank geparkt. Diese Geldhorte können jederzeit zur Kreditvergabe genutzt werden und die Inflation weiter anheizen (JF 10/21). Hinzu kommt ein mangelndes Vertrauen hinsichtlich des Zustands der Währungsunion mit Insolvenzrisiken insbesondere für Italien. Die Währungsunion ist potentiell instabil, da kein Euro-Mitgliedstaat direkt Zugriff auf das Geldangebot hat, allenfalls durch den kollektiven Beschluß des EZB-Rates.

Das Pandemie-Notfallprogramm PEPP und das neue „Anti-Fragmentierungs-Instrument“ TPI sind allerdings Beispiele, mit deren Hilfe diesen Krisenstaaten eine de facto nationale Notenpresse eingerichtet wurde – was durch das Mandat der EZB keinesfalls gedeckt ist. Außerdem ist die EZB durch ihre Rücksichtnahme auf diese Staaten in ihrer Inflationsbekämpfung entscheidend gehemmt, da sie die Wirkung einer restriktiven Geldpolitik immer am schwächsten Eurostaat – derzeit Italien – ausrichten muß. Zwar entwertet die hohe Inflation die Staatsschulden. Jedoch machen steigende Zinsen die Kreditverlängerung und Neuverschuldungen teurer, was Zinslasten dieser Staaten steigen läßt.

Zudem droht eine Finanzkrise, denn die Banken haben Kredite langfristig zu günstigen Zinsen vergeben, müssen sich jedoch kurzfristig zu hohen Zinsen refinanzieren. Hinzu kommen Wertberichtigungen bei den festverzinslichen Anleihen, die ihr Eigenkapital aufzehren. Schließlich steigern Ausfälle bei Firmen und Privatpersonen den Anteil notleidender Kredite. Demgegenüber ist der Dollar eine Leitwährung, in der nicht nur der Welthandel abgerechnet wird. Der Greenback gilt in Krisenzeiten als sicherer Hafen für Kapitalanlagen. Trotz einer Staatsschuldenquote von 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kann sich die US-Regierung weiter verschulden, ohne international den Kapitalmarktzutritt zu verlieren. Die US-Bundesebene kann daher praktisch nicht pleite gehen.

All dieses setzt dem Euro-Kurs zu, der innerhalb eines Jahres von 1,19 auf 0,99 Dollar abgewertet hat. Da Importe allein aus diesem Grund um 16,6 Prozent teurer wurden, spricht man von einer importierten Inflation. Diese Abwertung ließ die deutschen Exporte im ersten Halbjahr um 13,4 Prozent zum Vorjahreszeitraum steigen. Jedoch stiegen auch die Importe um 26,5 Prozent, was bei rückläufigen Importmengen vornehmlich dem Preisanstieg bei Öl- und Gasimporten geschuldet ist. Im Mai führte dies gar zu einer negativen Handelsbilanz: Die Importe lagen mit 126,7 Milliarden Euro höher als die Exporte (125,8 Milliarden). Parallel hierzu verschlechterte sich das reale Austauschverhältnis (Terms of Trade).

Deutschland und der Euro-Zone stehen schwere Zeiten bevor

Vereinfacht gibt dies an, welche Menge an Gütern eine Volkswirtschaft importieren kann, gemessen an der Gütermenge, die sie dafür exportieren muß. Je mehr Waren für eine bestimmte Menge an exportierten Gütern importiert werden können, desto besser. Die Verschlechterung der Terms of Trade führt dazu, daß Deutschland beispielsweise pro exportiertem Pkw weniger Erdöleinfuhren erhält. Betrugen die deutschen Einfuhren von Erdöl und Erdgas 2021 zusammen etwa 73 Milliarden Euro, würde eine Verdopplung der Preise bei gleich hohen Importmengen zu einer Belastung der Verbraucher in Höhe von 2,3 Prozent des BIP führen – eine Art Sanktions-/Kriegszoll zugunsten der Energieexportländer. Anders ausgedrückt: Die Preiserhöhungen gehen vor allem an Rußland, die OPEC-Staaten, Norwegen und die USA.

Mit dem schwächeren Euro steigen außerdem die Kosten für importierte Vorprodukte. Da der Importanteil durch Vorprodukte bei den Exporten 41,4 Prozent beträgt, schlagen sich die Preissteigerung für Energie und die Verschlechterung des Wechselkurses auch auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft nieder. Die VWL-Lehrbücher müssen ergänzt werden und Deutschland stehen schwere Zeiten bevor – nicht nur im Fußball. Es droht eine Stagflation mit hoher Geldentwertung bei sinkendem BIP.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.