© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Verlorener Blitzkrieg
Sanktionen: Rußland und die EU leiden / China als Profiteur?
Albrecht Rothacher

Wenn militärische Laien wie Wladimir Putin Blitzkriege planen und ökonomische Amateure, wie die Staatenlenker des Westens, in sieben Sanktionspaketen einen Blitz-Wirtschaftskrieg improvisieren, gehen die Dinge nicht so wie geplant. Das eherne Gesetz der unvorhergesehenen Nebenwirkungen nimmt seinen Lauf, und die Wahrheit bleibt im Gemisch von Wunschdenken, medialer Propaganda und Kriegslüge auf der Strecke. In den Supermärkten von Moskau und Sankt Petersburg ist von sechs Monaten Krieg wenig zu spüren. Die Regale sind mit Importen aus der Türkei, Serbien, Armenien und Kasachstan gut gefüllt.

Die Inflation ist mit 18 Prozent kaum schlimmer als in der EU oder den USA. Der Rubelkurs hat sich nach dem Schock des Einfrierens der Hälfte der im westlichen Zugriff befindlichen russischen Devisenschätze (300 Milliarden Dollar) durch die Vervielfachung der Öl- und Gaspreise mit einem Leistungsbilanzüberschuß von 265 Milliarden Dollar seit Kriegsbeginn gut erholt. Bei einem Exportpreis von mindestens 40 Dollar pro Faß Ural-Öl war der Staatsetat bis zum Beginn des Ukraine-Kriegs, der den offiziellen Rüstungshaushalt um elf Milliarden Dollar steigen ließ, stets ausgeglichen. Rohöl wird für 80 Dollar pro Faß nach Indien exportiert, dort zu Benzin, Kerosin und Heizöl raffiniert und nach Europa reexportiert.

Inzwischen machen sich Engpässe in der Produktion bemerkbar

Alle Beteiligten, einschließlich griechischer und maltesischer Reeder, profitieren. Nur der europäische Verbraucher zahlt jetzt schon die Zeche des erst im Januar in Kraft tretenden Pipelineöl-Boykotts. Nachdem der Kreml die Gazprom-Exporte durch die Nord-Stream-1-Pipeline auf 20 Prozent reduziert hatte, konnte der Konzern die geförderten Gasmengen nicht mehr speichern – das Gas wird unweit des bis 1945 finnischen Wyborg (Viipuri) einfach abgefackelt. Putin will demonstrieren, daß er die Gelder seines mit 61 Prozent wichtigsten Energiekunden, der EU, die seit Kriegsbeginn 57 Milliarden Euro in seine Kassen zahlte, nicht nötig hat, weil angeblich über hundert Länder anstehen, um billig Öl und Gas zu kaufen. Doch nur zehn Prozent des Gases sind per Pipeline nach China und in den Rest der Welt als Flüssigerdgas (LNG) lieferbar.

Der Ausschluß Rußlands vom Zahlungssystem Swift, die Sperrung aller West-Kreditkarten und das Verbot von Finanzgeschäften mit den meisten russischen Staats- und Geschäftsbanken brachten noch nicht den gewünschten Zusammenbruch des russischen Finanzwesens und Exportgeschäftes. Ohnehin wirken Wirtschaftssanktionen nie kurzfristig. Und Regime, denen das Elend ihrer Völker gleichgültig ist, wie Nordkorea, Birma (Myanmar), Weißrußland, Syrien, dem Iran, Venezuela oder Kuba, sind gegen Sanktionen, die sie für ihre Elitenbedürfnisse unterlaufen können, ohnehin immun.

Laut Weltbank wird die russische Wirtschaft 2022 um zehn Prozent schrumpfen. Es fehlt an Baumaterialien, Smartphones, Arzneimitteln, medizinischem Gerät, Autoteilen und Komponenten für Elektro- und Haushaltsgeräte, für Flugzeuge, Lokomotiven und Landmaschinen, ja selbst an Saatgut und an Schmierstoffen für die Wartung von Siemens-ICEs, obwohl längst nicht alles unter die Sanktionen fällt, aber Importgüter sind auch von den Einschränkungen des Flug-, Schiffs- und Straßengüterverkehrs betroffen. Einige Wochen konnten sich die krisenerprobten russischen Firmen dank ihrer umfangreichen Lagerhaltung und der kreativen Verwendung chinesischer, türkischer und einheimischer Ersatzteile über Wasser halten. Das ist jetzt vorbei. Die Chips aus Waschmaschinen und Kühlschränken, die für den Panzer- und Flugzeugbau taugen, sind nun Propagandafabeln – Mikroprozessoren sind keine geradegeklopften Nägel.

Am härtesten trifft die Wirtschaft mittel- und langfristig der Exodus der über eintausend ausländischen Unternehmen, die die russische Wirtschaft seit 1990 mit neuen Technologien und Managementwissen modernisierten. Der Rückzug erfolgt meist auf Raten, schließlich ist auf Mitarbeiter und Kunden Rücksicht zu nehmen; einige hoffen auf bessere Zeiten. Spektakulär war der Rückzug von großen Marken wie McDonald’s (800 Filialen), Coca-Cola (jetzt: Cool-Cola), Starbucks, Ikea, H&M, Adidas, Allianz, BMW, Deutsche Telekom, Honda, Apple, Google und der Auslandsbanken. Im einstigen Renault-Werk bei Moskau sollen jetzt wieder Moskwitschs vom Band laufen. Ex-Präsident Dimitri Medwedew (2008-12; seither Chef der Staatspartei Vereintes Rußland) bedroht Auslandsinvestitionen ohnehin mit Enteignungen, die bei dem britisch-japanischen LNG-Projekt auf Sachalin als „Rache für die Sanktionen“ per Dekret bereits vollzogen wurde. Da Gazprom die LNG-Technologie nicht beherrscht, sieht es um den Ausbau und eine unterseeische Pipeline in einem Erdbebengebiet nach China eher schlecht aus.

Auslandsunternehmen wurde nach der Einführung strenger Kapitalverkehrskontrollen die Zahlung von Dividenden oder der Transfer von Verkaufserlösen an ihre Eigner verboten. Die Milliardeninvestitionen der vergangenen drei Jahrzehnte müssen abgeschrieben werden. An ihnen werden sich jetzt die Oligarchen für den vergleichsweise geringwertigen Verlust ihrer Jachten und Luxusvillen schadlos halten. Putin mag von den neuen Märkten unter den BRICS (Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika), in der Türkei, Afrika und Südasien, die alle gern sein verbilligtes Rohöl nehmen, und von seiner 2011 deklarierten Autarkie-Politik schwadronieren – doch der Weg führt in das wirtschaftliche Nichts eines von China abhängigen Rohstofflieferanten: Ein „Obervolta mit Atomraketen“, wie dies Helmut Schmidt einst für Leonid Breschnews Sowjetunion formulierte. Denn einmal mit Milliardenverlusten ohne Rechtsschutz vertrieben, wird es auch nach dem Abtritt Putins sehr lange dauern, bis das scheue Auslandskapital zurückkehrt.

Zunehmende Kriegsverluste und Exodus von Fachkräften

Angesichts dessen und aus wachsender Furcht vor Einberufungsbefehlen haben seit Kriegsbeginn gut 300.000 junge, meist gut ausgebildete Russen das Land auf Dauer verlassen. Oft sind es IT-Fachleute, die nicht mehr für ausländische Kunden arbeiten können und von der traditionell besseren naturwissenschaftlich-mathematischen Ausbildung an russischen Oberschulen und Hochschulen profitieren konnten. Da sie in der EU mangels Flugverbindungen und Arbeitserlaubnissen nicht willkommen sind, sind sie nach Armenien, Georgien, Serbien, Israel, Zentralasien oder Dubai ausgewandert. Auch die USA bemühen sich um ihre Rekrutierung. Neben den Kriegsverlusten von 35.000 Gefallenen und einem Vielfachen an verwundeten und traumatisierten Männern verschärft auch dieser Exodus der Besten das demographische Problem Rußlands (mit 145 Millionen Einwohnern weniger als die Hälfte der USA), das in der Corona-Krise eine Übersterblichkeit von 1,2 Millionen zu beklagen hatte.

So gibt es denn auf westlicher Seite auch Scharfmacher wie Jeffrey Sonnenfeld, der in härteren Sanktionen die notwendigen Sargnägel für das Putin-Regime sieht und regelmäßig seine „Hall of Shame“-Liste veröffentlicht, in der er zumeist europäische Firmen anprangert, die – völlig legal – mit Rußland noch weiter Geschäftsbeziehungen unterhalten. Der 68jährige Yale-Professor, dessen Mutter aus dem Zarenreich stammt, sieht die russischen Energieexporte in Drittländer im Niedergang und das Ende der russischen Industrie durch den Mangel an Kapital, an eigenen Technologien, an Vorprodukten und Ersatzteilen. Kapitalflucht, Auswanderung, die Inflation, eine Megarezession (minus 40 Prozent) werden das Haushaltsdefizit in solche Höhen treiben, daß sie der Wirtschaft weiter Kapital und Liquidität entziehen. Deshalb verlangt Sonnenfeld noch mehr Sanktionen und das Verschwinden von Auslandsinvestitionen – all das auf Kosten Europas und Rußlands. Doch auch nach Putins Abtritt wird das größte Land der Erde weiterhin eine 2.300 Kilometer lange Grenze mit der EU haben – Sibirien und Alaska trennt zuverlässig die eisige Beringstraße.

Aktuelle Yale-Studie „Business Retreats and Sanctions Are Crippling the Russian Economy“ und die „Hall of Shame“-Liste der Firmen: som.yale.edu