© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Götter vor Gericht
Klüngelwirtschaft beim Bundesverfassungsgericht: Ausgesuchte Journalisten erhalten Stunden vor der Verkündung die Pressemitteilung zum Urteil / Jahrzehntelange Praxis jetzt in der Überprüfung
Martina Meckelein

Die Herren tragen dunkle Anzüge. Kein Lächeln huscht über ihre Gesichter. Sie wirken unnahbar, fast möchte man meinen, ablehnend. So sehen sie also aus, die Verteidiger des über jeden Zweifel erhabenen Bundesverfassungsgerichts. Nun steht gerade dieser juristische Olymp roter Roben selbst vor dem Kadi. Ein erschütternder Einblick in die Verfaßtheit des Verfassungsgerichts, bei dem Pförtner eine ganz besondere Aufgabe haben.

Ein privater Verein gibt vor, wem das Gericht Unterlagen aushändigt

Donnerstag der Vorwoche, 10 Uhr. Das Generallandesarchiv in der Nördlichen Hildapromenade. Vis-à-vis dem Eingang liegt der Vortragssaal im Erdgeschoß. Hier tagt die 3. Kammer des Karlsruher Verwaltungsgerichts. Einziger Sitzungstermin an diesem Tag ist das Verfahren 3 K 606/21: Alternative für Deutschland (AfD) gegen Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Der Präsident läßt sich vertreten: durch die oben beschriebenen zwei dunklen Herren, den Verwaltungsdirektor des Bundesverfassungsgerichts und den Pressesprecher.

„Das hier ist ein durchaus außergewöhnliches Verfahren“, sagt zu Beginn der Verhandlung der Vorsitzende der Kammer. Wobei er da ein wenig übertreibt. Es ist das dritte derartige Verfahren. Alles begann vor zwei Jahren. Damals deckt der Journalist Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel eine seltsame Praxis der Hüter unserer Verfassung auf. Unter der Überschrift „Bundesverfassungsgericht verrät vorab seine Urteile“ erscheint der Artikel am 7. Juni 2020. Demnach erhalten Mitglieder des Vereins „Justizpressekonferenz“ „am Vorabend die gerichtliche Pressemitteilung zur Entscheidung in Papierform und mit Sperrfrist“, so der Tagesspiegel. Das heißt, daß einige wenige ausgesuchte Journalisten Kenntnis über das Urteil erlangen, bevor es den streitenden Parteien vom Gericht zugänglich gemacht worden ist. Bis zur Urteilsverkündung dürfen sie nur nichts öffentlich machen.

„Ein absoluter Skandal“, sagt der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau aus Berlin gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Er vertritt die Bundes-AfD in dem Verfahren, die gegen diese Praxis klagt. „Dadurch haben diese Journalisten natürlich den klagenden Parteien gegenüber einen enormen Informationsvorsprung und können ihnen wohlinformiert Fragen stellen.“ Vor Gericht spricht er darüber hinaus von „einer Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren“. Nicht zu unterschätzen sei auch die Wirkung der Darstellung, die die Prozeßbeteiligten, gerade bei den aufsehenerregenden Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, vor den Kameras der Fernsehsender abliefern. „Diese Praxis der Öffentlichkeitsarbeit wäre bei jedem anderen deutschen Gericht völlig undenkbar“, sagt Vosgerau der JF. Und vor Gericht wiederholt er diese Einschätzung und sagt, daß diese Vorgehensweise „disziplinarrechtliche Konsequenzen für jeden normalen Richter hätte“.

Was sind das für Journalisten, die da so genau und so frühzeitig, eher als alle anderen Journalisten und noch vor den streitenden Parteien, vom Bundesverfassungsgericht informiert werden? Es sind die Mitglieder der „Justizpressekonferenz Karlsruhe e.V.“ (JPK). Gegründet wurde der Verein 1975. „Mitglied kann nur werden, wer hauptberuflich als Journalist tätig ist und ständig über die Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte sowie über Fragen der Rechts- und Justizpolitik berichtet“, steht auf dessen Homepage. Von den 38 Vollmitgliedern sind allein 15 von den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, von den 32 Gastmitgliedern sind es sieben. Der Rest sind dann die linke taz, die Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, die FAZ, Die Zeit. Doch sowohl Parteien wie Die Linke und die FDP als auch der Deutsche Journalisten-Verband üben Kritik an dieser Zusammenarbeit zwischen ausgesuchtem Journalistenklüngel und Gericht.

„Was uns hier interessiert, ist“, fragt der Vorsitzende Richter Richtung Beklagte: „Wie wird das denn nun mit der Sperrklausel gehandhabt?“ Daraufhin führt der Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts eher etwas unwillig, wie es scheint, aus: „Die Adressaten sind die Vollmitglieder der JPK. Von 20 bis 24 Uhr können die sich die Pressemitteilungen an der Pforte abholen, so steht es in unseren Richtlinien. Auf der Pressemitteilung ist die Sperrfrist abgedruckt.“ Wie er dann das weitere Prozedere schildert, das läßt den Zuhörer doch staunen. Denn die Liste der Vereinsmitglieder bekommt das Bundesverfassungsgericht vom Verein. „Ein privater Verein schreibt dem Bundesverfassungsgericht vor, wem es die Unterlagen auszuhändigen hat“, bemerkt Vosgerau süffisant. Ob die Liste aktuell ist, kann das Gericht gar nicht überprüfen. An der Pforte liegt diese Liste mit den Namen der Vollmitglieder. Wenn eines dieser Mitglieder nun im Laufe des Abends oder der Nacht an der Pforte auftaucht, gibt der Pförtner die Unterlagen heraus und der Journalist unterschreibt mit seinem Namen. „Der Sperrvermerk ist doch kein Hinderungsgrund, diese Unterlagen weiterzugeben“, wirft Vosgerau ein, „zum Beispiel an Politiker oder routinemäßig an andere Journalisten per Mail.“ Wenn dann die Beklagtenseite darauf erwidert: „Es darf nicht eingescannt und weitergesendet werden“, scheint das schon etwas lebensfremd.

„Abnehmendes Vertrauen der Bürger in Funktionieren der Justiz“

Doch auch auf Nachfrage der jungen freiheit nach Ende der Sitzung wollte der Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts eine Frage nicht beantworten: die nach den Sanktionen, die ein Journalist, der gegen die Sperrfristklausel verstößt, zu erwarten habe. „Zu laufenden Verfahren nehmen wir keine Stellung.“ Auch der Einwand, daß es sich schließlich um gängige Gerichtspraxis handele, ließ den Mann nur wieder wie eine Sprechpuppe antworten: „Zu laufenden Verfahren ...“

Generell scheint das Bundesverfassungsgericht sich keiner Schuld bewußt zu sein: Den Anspruch auf ein faires Verfahren habe das Gericht mit der Herausgabe der Unterlagen an die Presse schließlich nicht verletzt. „Die Verfahrensbeteiligten werden gleich behandelt“ – denn diese erfahren von den Urteilen als letzte.

Nach 90 Minuten waren für das Gericht am Donnerstag der Vorwoche alle Argumente ausgetauscht. Man verabredete sich, am folgenden Tag die Parteien um 10 Uhr über das Urteil zu informieren und anschließend ab 12 Uhr die Journalisten. Das Gericht entschied, die Klage der AfD abzuweisen.

„Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe erscheint juristisch nicht nachvollziehbar“, so Vosgerau. Zumal weil sein Hilfsantrag, wenigstens die Prozeßparteien zur selben Zeit zu informieren, ebenfalls abgewiesen wurde. Auch eine Berufung an eine nächsthöhere Instanz habe, so Vosgerau, das Karlsruher Gericht nicht zugelassen. „Dies wäre ein klarer Rechtsfehler, da die Entscheidung grundsätzliche Bedeutung hat“, so Vosgerau. Immerhin handele es sich um eine Gerichtspraxis, die 30 Jahre geheimgehalten wurde und über die deshalb eben noch gar nicht entschieden werden konnte.

„Es sind offensichtliche Fehlentscheidungen wie diese, die überall die Rede von der ‘Herrschaft des Unrechts’ begründen, den Verdacht politischer Steuerung der Gerichte nähren und zu einem stetig abnehmenden Vertrauen der Bürger in das Funktionieren der Justiz und der Gewaltenteilung überhaupt geführt haben.“

Der Rechtsanwalt rät seinen Mandanten, gegen die Entscheidung mit einer Nichtzulassungsbeschwerde, gegebenenfalls mit einer Verfassungsbeschwerde vorzugehen.

Fotos: Die Roben ausgezogen: Erschütternder Einblick in das Gebaren des Bundesverfassungsgerichts; Ulrich Vosgerau vertritt die AfD vor Gericht: Der Staatsrechtler kritisiert den „enormen Infor-mationsvorsprung“ bevorzugter Journalisten und sieht Recht auf faires Verfahren verletzt