© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

In Erwartung des Zorns
Corona-Maßnahmenstaat: Die politisch-mediale Klasse kujoniert das eigene Volk / Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist der ideale Verkäufer dieser Politik
Thorsten Hinz

Die Gemütslage von Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist für Küchen- und Neuropsychologen, für Therapeuten und Seelenforscher aller Art ein unerschöpfliches Thema. Jeder Fernsehauftritt, jedes Interview und jeder Covid-Alarm des Ministers bietet Stoff, um den Diagnosen weitere Facetten hinzuzufügen. Narzißmus, Kontrollwahn, Autismus sind noch die milderen Befunde, die im Netz kursieren. Alle sind sich einig, daß Lauterbachs Ex-Frau recht hatte, als sie 2013 sagte, daß er aufgrund sozialer Dysfunktionalität niemals Minister werden dürfe. Lauterbach zeigt sich davon unbeeindruckt. Die Horrorszenarien, die er verbreitet – die Ungeimpften, verkündete er im Herbst 2021, seien bis März 2022 entweder „geimpft, genesen oder leider verstorben“ – scheinen in ihm einen Feuerregen aus Glückshormonen auszulösen.

In der Sache nimmt ihn niemand mehr ernst. Sogar die meisten Medien, die ihn einst als „Gesundheitsminister der Herzen“ ins Amt getragen haben, verfallen in verlegenes Hüsteln. Das Wort „Klabauterbach“ ergibt bei Google eine fünfstellige Trefferquote im mittleren Bereich, der Neologismus „Impflamist“ kommt auf knapp 400 Treffer. Als Lauterbach kürzlich zur Begründung der Maskenpflicht eine angebliche wissenschaftliche Studie zitierte, schlugen Kenner der Materie die Hände über dem Kopf zusammen. Der Medizinstatistiker Gerd Antes kommentierte: „Das macht mich sprachlos.“ Die Arbeit sei „von unterirdischer Qualität“. Der irische Epidemiologe und Statistiker Darren Dahly ätzte, sie sei „offensichtlicher Müll“. Er bete, daß Lauterbach die Studie gar nicht gelesen habe, „da dies wirklich die am wenigsten besorgniserregende Erklärung ist“. Die am meisten besorgniserregende Erklärung möchte man sich gar nicht erst vorstellen.

Warum läßt man einen Mann gewähren, der mit seiner manischen, auf keine wissenschaftliche oder sonstige Evidenz gestützte Covid-Fixierung den sonst mit warnendem Unterton herbeihalluzinierten „deutsche Sonderweg“ beschreitet? Oder sind die Schweizer, die Dänen, die Polen so viel lebensmüder oder dümmer als der deutsche Michel? Eine lächerliche Annahme!

Es geht eben nicht, wie Michael Paulwitz hier kürzlich feststellte, um „rationale Argumente oder gar Gesundheitsfragen“. Lauterbachs objektive Funktion ist eine andere und doppelte. Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung betreibt er die Institutionalisierung und Verstetigung eines umfassenden Kontroll-, Steuerungs- und Repressionssystems. Anlaßlose Tests, Maskenpflicht, ein faktischer Impfzwang sind schon mal auf einer ersten Eskalationsstufe geeignet, alltägliche soziale Interaktionen einzuschränken. Und der Maßnahmenkatalog kann beliebig erweitert werden. Zweitens ist Lauterbach das perfekte Alibi und der geeignete Prellbock für aufflammenden Unmut. Solange sich die Leute über seine Skurrilität und seinen Eskapismus echauffieren und sie als ursächlich für die rigide Covid-Politik betrachten – und die folgenlosen Widerreden des Komplementärclowns Wolfgang Kubicki für ernsthafte Debattenbeiträge halten –, so lange bleiben die Brisanz und die Motive dieser Politik außerhalb der Diskussion.

Selbstverständlich geht es darum, mittels rigider Hygiene-Vorschriften öffentliche Proteste im Vorfeld zu verhindern. Die schwärende, multiple Staatskrise droht durch die galoppierende Inflation und die teils selbst, teils fremdverursachte Energiekrise akut zu werden. Der Wirtschaft und weiten Teilen des öffentlichen und privaten Lebens wird der Saft abgedreht. Die Politik offeriert uns einen Kriegswinter mit verdunkelten Straßen und kalten Stuben, mit Taschenlampen, Spirituskocher, Heizdecken, Waschlappen und Dosengemüse. Wie in der Endzeit der DDR sollen Güterzüge, die Kohle oder Öl transportieren, auf der Schiene Vorrang  vor Personenzügen bekommen.

Laut Sparkassenpräsident Helmut Schleweis könnten perspektivisch bis zu 60 Prozent der deutschen Haushalte ihre gesamten verfügbaren Einkünfte – oder mehr! – monatlich für die reine Lebenshaltung brauchen. Damit zerbrechen die zentrale, halbwegs intakte Lebenslüge und das letzte kollektive Identitätssurrogat: daß die Deutschen „reich“ seien und in einem „reichen Land“ leben.

Für eine Gelbwesten-Revolte ist dieses Volk zu alt, zu müde, zu autoritär und staatsgläubig. Gleichwohl fürchtet die politische Klasse „Volksaufstände“, wie Annalena Baerbock, das „aus dem Völkerrecht“ kommende grüne Plappermäulchen, jüngst verriet. Also macht der Staat mobil gegen den erwarteten „Wutwinter“. Diese Wortschöpfung enthält neben der Erwartung auch ein Framing, eine Insinuation. Wut ist ein starker Affekt, eine heftige, unbeherrschte Erregung, die das Bewußtsein trübt, der Kontrolle entgleitet und zu zerstörerischen und autodestruktiven Handlungen führt. Dagegen muß der Staat natürlich einschreiten, die Wutentbrannten gar nicht erst zu Wort kommen und Straßen und Plätze beschreiten lassen – oder? 

Angesichts der Unfähigkeit der politischen Klasse hätte ein „Winter des Zorns“ alles Recht der Welt. Der Zorn ist gleichfalls ein heftiger Affekt, aber er hat einen rationalen Kern und moralische Berechtigung. Er entzündet sich an erlittenem oder empfundenem Unrecht und hat in der Geschichte häufig eine achtenswerte politische Qualität besessen. Regierung und Verfassungsschutz aber stimmen vorsorglich das Eiapopeia vom Rechtsextremismus an, der drohend sein Haupt erhebe. Im Netz bringt ein origineller Kommentar – hier wiedergegeben in verbesserter Orthographie – die Regierungslogik auf den Punkt: „Das gefällt mir! Frieren gegen Putin ist OK, aber frieren und sich beschweren erfüllt den Tatbestand der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates. Cool(!)“

Neben der propagandistischen laufen die Vorbereitungen auch auf der praktischen Ebene. Die Inhaftierung des Querdenker-Gründers Michael Ballweg, die Hausdurchsuchungen bei den Medizinern und Maßnahmenkritikern Professor Stefan Hockertz und Paul Brandenburg sind deutlich vernehmbare Warnschüsse und scharfe Feinderklärungen.

Bereits in der Vergangenheit ist die Polizei brutal gegen Kritiker der Covid-Vorschriften vorgegangen, was um so mehr schockierte, als sie im scharfen Kontrast zum weichen Prozedere bei anderen Demonstrationen stand. Ein inzwischen ausgeschiedener Berliner Polizeibeamter, der 27 Jahre lang im gehobenen Dienst tätig war, hat gegenüber Boris Reitschuster geschildert, daß Berliner Polizisten „seit Jahren ideologisiert“ und Führungskräfte „in Seminaren, die teilweise Pflichtveranstaltungen sind, politisch geschult“ werden. Man könnte auch sagen, sie werden gegen Andersdenkende scharfgemacht. „Am 18. November 2020 wurde in der Randale-Hauptstadt Berlin wieder ein Wasserwerfer-Einsatz gegen Demonstranten befohlen – zum ersten Mal nach 17 Jahren. Ausgerechnet am Tag der entscheidenden Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Das ist bezeichnend. Intern kursierten schriftliche und mündliche Dienstanweisungen, bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen niedrigschwellig einzuschreiten. Das stellte eine totale Abkehr von der Deeskalationsstrategie dar, die die Berliner Polizei davor jahrelang praktizierte.“

Ende 2021 übernahm ein General der Bundeswehr die Leitung des Corona-Führungsstabs im Kanzleramt, der das Vorgehen gegen das Coronavirus koordinieren sollte. Wegen gesunkener Infektionszahlen wurde er im Mai aufgelöst. Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann betonte bei der Gelegenheit, die „Entscheidung möge nicht mißverstanden werden“.

Tatsächlich wurde, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, mit der Aufstellung von „Heimatschutz-Kompanien“ begonnen. Laut Bundeswehr-Website handelt es sich um „diejenigen Einheiten der Territorialen Reserve, die im Ernstfall direkt vor Ort unterstützen und mit anpacken. Reservistinnen und Reservisten in den Heimatschutzkompanien sind speziell für Wach- und Sicherungsaufgaben ausgebildet. Sie können die Truppe zum Beispiel dabei unterstützen, Kasernen und Bundeswehr-Liegenschaften zu bewachen, Posten und Streifen zu stellen, Kfz-Kraftfahrzeug- und Personenkontrollen durchzuführen.“ Es geht also nicht bloß um die Bekämpfung von Schneekatastrophen und Waldbränden, sondern um Polizeiaufgaben.

Ende 2021 hat die Bundeswehr gemeinsam mit dem österreichischen Bundesheer entsprechende Einsätze trainiert. In einem am 1. Dezember 2021 von der Bundeswehr veröffentlichten Video („Auf den Barrikaden – CRC-Übung mit dem Bundesheer X Bundeswehr“) wird gezeigt, wie sogenannte CRC-Einsätze (Crowd and Riot Control) geprobt werden. Darunter versteht die Bundeswehr die „Überwachung von unfriedlichen Menschenansammlungen und Eindämmung von Krawallen im Einsatz“. In der Erklärung zum Video wird auf Auslandseinsätze im Kosovo verwiesen, aber laut GG Art. 87a können auch „Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. Nach offiziellen Angaben kann das „zur Unterstützung der Polizei und der Bundespolizei zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ geschehen. Der Handlungsspielraum ist groß, zumal unklar ist, was für eine Heimat eigentlich geschützt werden soll. Jene, die Innenministerin Faeser neu definieren, also ihres tradierten Sinnes berauben will? Haben sogenannte Corona-Leugner und die unbelehrbaren Anhänger warmer Füße neben ihrer Steuer- und Abgabenpflicht darin überhaupt noch ein Heimatrecht?

Auf allen Seiten herrscht hochgradige Nervosität. Die politisch-mediale Klasse weiß, daß der zerstörerische Charakter ihrer Politik, die das eigene Volk kujoniert, sich nicht länger kaschieren läßt, und fürchtet eine logische Reaktion seitens der Kujonierten. Daher der freudsche Versprecher „Volksaufstände“. Durchgreifende Kurskorrekturen kann sie nicht einleiten, ohne damit den eigenen Unwert zu erklären und Gefahr zu laufen, in der Folge ihrer Privilegien verlustig zu gehen. Die Bürger fürchten ihrerseits die Konsequenzen, die sich aus dieser Zwangslage der kompromittierten Eliten ergeben. Kanzler Olaf Scholz wurde daher bei einem Bürgerforum in Neuruppin ausdrücklich nach einem möglichen Schießbefehl gefragt. Neuruppin liegt in Brandenburg, in der Ex-DDR. Hier ist die  Erinnerung an den Sommer 1989, als im Land eine allgemeine Furcht vor einer „chinesischen Lösung“ nach dem Vorbild des Tienanmen-Platzes herrschte, noch lebendig. Der überrumpelte Kanzler weckte mit seiner Antwort: „Niemand in diesem Land hat vor, daß auf Demonstranten geschossen wird“ ungewollte Assoziationen an SED-Chef Walter Ulbricht, der im Juni 1961 auf die Frage nach einer möglichen Grenzschließung in Berlin geantwortet hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Eine weitere freudsche Fehlleistung, die noch der Deutung harrt.

Offenbar soll das neue Infektionsschutzgesetz aus Sicht der Regierung die finale Zuspitzung der befürchteten Konfrontationen vermeiden helfen. Es ermöglicht Demonstrations- und Kundgebungsverbote, den Entzug von Grundrechten und sonstige Repressionen und verwandelt sie zugleich in hehre Initiativen zum Schutz der Gesundheit, des Lebens, der menschlichen Würde überhaupt. „Alles für das Wohl des Volkes“ lautete eine Standardformel der DDR-Propaganda.

Lauterbach ist die ideale Figur, um diese Politik zu verkaufen und den Unmut, die sie auslöst, als eine Art Blitzableiter auf sich zu lenken. Bei Bedarf kann man ihn zwecks Druckentladung aus dem Verkehr ziehen, ohne an der Politik prinzipiell etwas zu verändern. Der Gemütszustand des Ministers ist von allen Problemen also das geringste.