© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Was dabei herauskommt, wenn ein geschätzter älterer Feuilletonkollege wie Jens Jessen – er konnte vor vier Wochen seinen 67. Geburtstag feiern – sich Gedanken über „die beschwerte Jugend“ im Verhältnis zu „den Alten“ macht, liest sich in der Wochenzeitung Die Zeit (Ausgabe vom 25. August) so: „Es könnte durchaus sein, daß bei weitem zu viel Aufmerksamkeit den Übertreibungen und Bizarrerien der woken Verbotskultur gewidmet wird, anstatt auf deren systemischen Sinn zu achten. In Zeiten ernster Herausforderung muß es vor allem darum gehen, (…) den Individuen die Gewohnheit frivoler Spielräume zu nehmen, sie am Beispiel verbotener Wörter und Redeweisen auf andere, womöglich einschneidendere Verbote vorzubereiten – oder ihnen generell erst einmal einen Schrecken einzuflößen, der ihnen die Unbefangenheit nimmt.“ Weiter heißt es in Jessens Essay mit dem Titel „Warum so ernst?“: „Vielleicht hat die Jugend, der im demokratischen Prozeß die Machtmittel fehlen, in der Regulierung von Sprech- und Verhaltensweisen (…) das Machtmittel gefunden, mit dem die Mehrheitsgesellschaft eingeschüchtert werden kann. (…) Die allgemeine Einschüchterungswirkung ist womöglich der eigentliche, wenngleich unbewußte Zweck des woken Achtsamkeitsdiskurses, nicht die punktuelle Sorge um Empfindlichkeiten dieser oder jener Minderheit.“

Die prachtvollen Opern-Inszenierungen Franco Zeffirellis sind eine pure Augenweide.

Fernsehtip: An diesem Samstag (3. September) zeigt 3sat ab 20.15 Uhr Georges Bizets Oper „Carmen“ aus der Arena di Verona als Erstausstrahlung in voller Länge. Sie eröffnete dort die diesjährigen 99. Opernfestspiele. Die musikalische Leitung obliegt Marco Armiliato. In der Titelrolle ist die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča zu sehen, die bereits in ihrer Interpretation der Carmen an der Metropolitan Opera in New York und an der Wiener Staatsoper glänzte. Den eifersuchtskranken Don José spielt der US-amerikanische Tenor Brian Jagde. Sehenswert ist ihr Spiel in vier Akten um Liebe und Freiheitsdrang nicht zuletzt auch wegen der prachtvollen Inszenierung des italienischen Starregisseurs Franco Zeffirelli (1923–2019). Er nutzte die Breitbild-Dimension der Arena gleich dreimal, um den faszinierenden Opernstoff in kraftvolle Bilder umzusetzen. Die dieses Jahr gespielte Version ist eine Synthese szenischer Elemente daraus als Hommage an den ehemaligen Nachkriegsassistenten von Luchino Visconti. Die Kostüme stammen von der italienischen Kostümbild-Ikone Anna Anni. Mit ihr war der begnadete Regisseur ebenso befreundet wie mit der Ausnahmesängerin Maria Callas, mit der er für Aufführungen von „Norma“, „La traviata“ und „Tosca“ zusammengearbeitet hatte. In seinem Todesjahr inszenierte er in Verona „Il trovatore“ mit Anna Netrebko. In einem Nachruf auf den homosexuellen Traditionskatholiken und politisch Konservativen – Zeffirelli gehörte für zwei Wahlperioden Silvio Berlusconis Forza Italia dem Senat an – hieß es in der Welt, er habe „jahrzehntelang als Fels in der Brandung einer radikal umgepflügten Theaterwelt“ gegolten. Bis heute jedenfalls sind seine opulenten Inszenierungen eine pure Augenweide.