© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Mir ist selten an einem Ort die Kolonisierung unserer Lebenswelt durch den globalen Kapitalismus so deutlich vor Augen getreten wie in Oxford. Die touristischen Massen, die in die Stadt strömen, weil sie deren Namen auf unklare Art mit elitärer Britishness und nostalgischen Kriminalromanen verknüpfen, klappern mehr oder weniger verständnislos die Sehenswürdigkeiten ab und laufen dann durch drei, vier Straßenzüge, in denen sich irgendwelche Souvenirläden, orientalische Garküchen oder die Niederlassungen internationaler Fastfoodketten befinden. Wahrscheinlich gibt es in der ganzen Innenstadt kaum mehr als zwei oder drei Dutzend einheimischer Geschäfte.

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Bei den Kommentaren zum Abgang von Patricia Schlesinger als RBB-Intendantin spielt praktisch nie eine Rolle, daß man es mit einem für die Kaviar-Linke ganz typischen Vorgang zu tun hat: nicht nur was den Aufbau von Seilschaften und das Kapern von Institutionen angeht, sondern auch in bezug auf einen Egalitarismus, der zwar propagiert wird, von dessen Regeln man sich selbst aber souverän ausnimmt.

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Ein Kapitel des britischen Bestsellers „Why the Germans Do It Better“ von John Kampfner trägt die wunderbare Überschrift „No More Pillepalle“.

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Natürliche Religion I: Das kaum zweijährige Kind auf dem Schoß des Vaters, das eine dreiviertel Stunde gebannt der Liturgie, dem Erscheinen und Zurücktreten der Geistlichen, dem Aufstehen, Hinsetzen und Niederknien folgt und konzentriert dem Gesang des Chores lauscht.

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Natürliche Religion II: Es begann damit, daß auch in den traditionell katholischen und orthodoxen Ländern immer seltener Touristen an Kirchen abgewiesen wurden, die in allzu sommerlicher Kleidung erschienen. Dann brachten die Verantwortlichen des Doms zu Florenz Schilder an, auf denen höflich gebeten wurde, im Gotteshaus die Hüte abzunehmen und sich würdig zu benehmen, weder zu essen noch zu trinken, weder herumzurennen noch zu knutschen. Mittlerweile ist es üblich, daß die Leute unbeanstandet drittelnackt hereinkommen, mit den verschiedensten Kopfbedeckungen, entweder den Latte in der Hand oder irgendein Mobilgerät, auf dem sie herumwischen oder in das sie hineinsprechen, sich lautstark unterhalten und lässig an den Altar gelehnt posen, um ein „Selfie“ aufzunehmen.

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Das Empfinden, daß es mit der Einheit des Vereinigten Königreichs nicht mehr weit her ist, verfestigt sich, wenn man nach Schottland einreist. Schon beim „Grenzübertritt“ wird der Reisende durch die „Nationalregierung“ von großen Schildern mit dem Andreaskreuz begrüßt. Auffällig ist die Betonung der Selbständigkeit aller möglichen Institutionen – von der Eisenbahn bis zur Polizei – wie das Fehlen des königlichen Bildnisses auf den Banknoten (weshalb die „im Süden“ oft nur zögernd als Zahlungsmittel akzeptiert werden).

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Mathias Brodkorb hat ein langes Gespräch mit Henning Eichberg in Buchform publiziert („Ethnopluralismus von links“). Brodkorb deutet an, daß es sich um das „politische Testament“ Eichbergs handele. Wie auch immer. Dem Text ist in der Sache zwar nur wenig, aber doch eine gültige Selbstaussage zu entnehmen: Eichberg sah sich dauernd von irgend etwas affiziert, das er „interessant“ fand; was heißt, daß er Romantiker im Sinne Carl Schmitts war, womit man den Mangel an Durchhaltevermögen erklärt hätte, bis zu einem gewissen Grad auch die Dürftigkeit des Theoriegebäudes. Eichbergs konstruktive Beiträge zur Weltanschauung der „Neuen Rechten“ darf man in ein paar Aufsätzen sehen, die er Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre geschrieben hat, in einer Untersuchung über die „Massenspiele“ und die Verankerung des Begriffs „Nationale Identität“. Für den Rest seines „Werkes“ ist ein terminologischer und argumentativer Wust kennzeichnend, bei dessen Lektüre einen immer wieder der Verdacht beschleicht, daß der Verfasser selbst kaum verstanden hat, was er schrieb; womit Eichberg ganz dem intellektuellen Imponiergehabe der Linken entsprach, zu der er so gern gehören wollte.

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Die Burg des Städtchens Caernarfon bot nicht nur vor Jahrzehnten die mittelalterliche Kulisse für die Einsetzung des britischen Thronfolgers als Fürst von Wales, sondern beherbergt auch das Museum der Royal Welsh Fusiliers. Als ich das im vergangenen Monat besuchte, strömte mit mir eine große Zahl von Neugierigen hinein, die die Ausstellung allerdings rasch wieder verließen. Offenbar enttäuschte sie die klassische Präsentation: zuwenig interaktive Spielerei, zuwenig zum Anfassen, zuviel altes Zeug, zuviel Text. Da ich irgendwann mehr oder weniger allein war, kam einer der aufsichtführenden Veteranen regelmäßig, um nachzusehen, was ich machte. Am Ausgang fragte er freundlich, ob mir das Museum gefallen habe. Ich bejahte und fügte hinzu, daß vor allem das Fehlen von Diversität, Feminismus, Antirassismus und Antikolonialismus zu begrüßen sei. Da straffte sich die Gestalt und mit strahlendem Lächeln folgte ein „Yes, Sir!“


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 16. September in der JF-Ausgabe 38/22.