© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Drei Wünsche frei
Kino: „Three Thousand Years of Longing“ ist ein Universalismus-Pamphlet mit Märchen aus Tausendundeiner Nacht
Dietmar Mehrens

Es gibt einen Knall, Luftschlangen aus rotblauem Rauch hüllen das Agatha-Christie-Zimmer ein, das Alithea Binnie (Tilda Swinton) in einem Istanbuler Hotel zugewiesen wurde. Der Rauch verfärbt sich schwarz, wird zur Riesenwolke, und kurz darauf wird im Türrahmen die Hand eines Riesen (Idris Elba) erkennbar. Kein Zweifel: Aus der alten Flasche, an der die Dame mittleren Alters sich soeben im Bad mit einer elektrischen Zahnbürste zu schaffen gemacht hat, ist ein Geist entwichen. Was der ihr mitzuteilen hat, hört wohl jeder gern: „Ich bin hier, zu gewähren deines Herzens Begehren.“ 

Alithea Binnie hat einen höchst interessanten Beruf: Sie ist Narratologin – Erzähl- und Überlieferungsforscherin. Kein Wunder also, daß man sie in dem Hotelzimmer untergebracht hat, in dem Agatha Christie „Mord im Orient-Expreß“ verfaßt haben soll. Sie sucht nach der Wahrheit, die ihrer Ansicht nach in allen menschlichen Erzählungen enthalten ist. „Geschichten sind wie ein Atem“, glaubt Alithea, jede von ihnen das Fragment eines Mosaiks. Zusammen ergeben sie ein kohärentes Bild. Als die Geisteswissenschaftlerin auf der Konferenz, für die sie nach Istanbul gekommen ist, zu ihrem Thema spricht, werden erste Risse im Raum-Zeit-Kontinuum sichtbar: Alithea sieht ein Fabelwesen in den Reihen des Publikums sitzen. Die Erscheinungen wiederholen sich und kulminieren in dem Knalleffekt im Bad. 

Grundgedanke der linksgrünen „Neues Zeitalter“-Ideologie

Mit den drei Wünschen, die der rothaarigen Engländerin nun traditionsgemäß zustehen, tut sich Alithea jedoch schwer. In klassischer „Tausendundeiner Nacht“-Manier beginnt der zu Fast-Normalgröße geschrumpfte Dschinn daher exotische Geschichten aus früheren Zeiten zu erzählen, die dank großzügiger Griffe in die Computertrickkiste und die sie ermöglichenden Geldtöpfe farbenprächtig und opulent bebildert sind: Salomo und die Königin von Saba machen den Anfang. Es folgen „Das Vergessen eines Dschinns“, „Zwei Brüder und eine Riesin“ sowie „Die Konsequenz von Zefir“. Leider nehmen die optisch fesselnden Anekdoten so viel Raum ein, daß für das, was der Film sonst noch zu erzählen hat, nämlich eine reichlich unkonventionelle Liebesgeschichte, nur wenig Platz bleibt. 

Zugrunde liegt dem Film, dem man den schönen deutschen Titel „3000 Jahre Sehnsucht“ gewünscht hätte, die Novelle „The Djinn in the Nightingale’s Eye“ (1994; dt.: „Der verliebte Dschinn“, 1995) der Britin Antonia S. Byatt. Unter George Millers Regie wurde daraus ein barocker Bilderrausch, dessen ideologische Befrachtung auf den ersten Blick nicht sichtbar wird.

Das zentrale Motiv der miteinander verzahnten, einander wechselseitig beeinflussenden und so Welt konstituierenden Geschichten und Erzähltraditionen greift indes einen Grundgedanken der linksgrünen „Neues Zeitalter“-Ideologie auf, nämlich den der Systemschau, wonach alles mit allem zusammenhänge und der Kosmos ein Geflecht vielfältiger Abhängigkeiten, Verbindungen und wechselseitiger Beeinflussungen sei. „Es gibt Mythen, und es gibt die Wissenschaft“, glaubt Alithea, aber sie faßt die beiden Sphären nicht als Gegensätze auf, sondern als Teile eines größeren Ganzen: Nichts ist isolierbar, alles im Fluß. Das gilt auch für Geschichten aus dem Reich der Mythen, die das Übersinnliche, die kosmische Wahrheit, in verdauliche Metaphern kleiden, sich gegenseitig befruchten und auf diese Weise der von ihnen dargestellten Welt Kohärenz verleihen. So erklärt sich auch der gleich zu Beginn formulierte Anspruch Alithea Binnies, eine „wahre“ Geschichte zu erzählen, obwohl sie wie ein Märchen klingt. 

Wer ihren Namen ein wenig genauer unter die Lupe nimmt, entdeckt darin eine verborgene Botschaft: Alithea klingt verdächtig nach dem griechischen Wort für Wahrheit („aletheia“), in Binnie steckt der englische Ausdruck für Gefäß („bin“). Die Mission der Narratologin lautet also, ein Gefäß für Ströme der einen universellen Wahrheit zu sein und als erleuchtete („woke“) Pionierin der Menschheit den Weg dorthin zu weisen.

Wie üblich wird Otto Normalzuschauer von diesem doppelten Esoterik-Boden wenig bemerken. Daher werden zwei halbsenile Omas aus dem Nachbarhaus von Alithea in London als holzhammerpädagogische Demonstrationsmodelle zwangsrekrutiert: Die beiden Seniorinnen, die dem Altes-Zeitalter-Denken verhaftet sind, daß allen Völkern ein von Gott bestimmter Lebensraum zugeordnet ist, bekommen den dringend nötigen Denkzettel verpaßt. 

Kinostart ist am 1. September 2022