© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Die Sehnsuchtsmelodie getrennter Paare
Das Lied „Lili Marleen“ war auch ihr Schicksal: Zum 50. Todestag der Sängerin Lale Andersen
Peter Hain

Sie sang das berühmteste Antikriegslied, bewegte mit „Lili Marleen“ Millionen Menschen weltweit. Lale Andersen schrieb deutsche Musikgeschichte. Nun jährt sich ihr Todestag zum fünfzigsten Mal, und noch immer bewegt ihre Lebensgeschichte. 

Nachdem sie einen Bombenangriff knapp überlebt, flüchtet Lale Andersen im Februar 1945 aus Berlin. Mit ihrem jüngsten Sohn Michael schafft sie es bis auf die Ostfriesische Insel Langeoog, kommt bei Freunden unter. Die Flüchtlingsfrau mit dem berühmten Namen schlägt sich mit Näharbeiten und Gesangsunterricht durch. Das Dritte Reich endet, die Alliierten erobern die Insel. Lales Sohn macht sich bei den kanadischen Besatzungssoldaten wichtig: „Ich bin der Sohn von Lale Andersen, die ‘Lili Marleen’ gesungen hat!“ Die Kanadier halten sie zunächst für eine Hochstaplerin. Doch dann singt Lale für sie, gibt Autogramme. Ja, diese Frau war wirklich Lili Marleen! 

Sie wird zu Fronttourneen in besetzte Gebiete geschickt

Sie hatte immer diese Sehnsucht im Blut, nach Abenteuer und Ferne. Geboren wurde sie als Liese-Lotte Helene Berta Bunnenberg am 23. März 1905 in Bremerhaven-Lehe. Ihr Vater, ein Schiffssteward, war meist auf See. Er brachte die weite Welt ins Haus, die Liebe zum Meer und zur Heimat. Und von ihrem Vater hatte Lale auch die schnelle, mutige Entschlußfreudigkeit geerbt. Kaum 15 Jahre jung, verläßt sie die Schule, heiratet bald darauf den Maler Paul Ernst Wilke, einen Spätimpressionisten, der vor allem Schiffe malt. 

Mit 24 Jahren hat Liese-Lotte schon drei Kinder, doch die Ehe scheitert. Sie bringt die Kleinen zu Verwandten, zieht spontan nach Berlin. Lale Andersen, wie sie sich nun nennt, will Karriere als Sängerin machen. Sie singt Chansons von Brecht, Weill und Tucholsky. Und besonders beliebt sind ihre Seemannslieder, die sie sexy und kess im Matrosenkostüm vorträgt. Charakteristisch ihre leicht rauhe Stimme und die ungekünstelte Art ihres Vortrags. So tingelt die Nordseekrabbe in den dreißiger Jahren durch Deutschland. 

Nach Kriegsausbruch wird sie zu Fronttourneen in die besetzten Gebiete geschickt, Frankreich, Dänemark, Polen. Nur in Belgrad ist Lale nie gewesen. Doch ausgerechnet von dort aus wird sie berühmt. Radio Belgrad sendet seit 1941 Nachrichten und Musik für die Wehrmacht. Die Liederauswahl ist dürftig. Der Moderator, ein Leutnant aus Wien, hat nur wenige Platten zur Auswahl. Eine davon: „Lied eines jungen Wachtpostens“ (Text: Hans Leip): „Vor der Kaserne vor dem großen Tor stand eine Laterne ...“. Die Platte ist nach Meinung der Redaktion ein Ladenhüter, wird aussortiert. Ein Riesenfehler. Es kommt eine Protestflut von Feldpostbriefen: Die Landser wollen ihre Ikone Lale Andersen hören. Für sie ist Lili Marleen die virtuelle Geliebte. So macht Radio Belgrad einen Rückzieher, das Antikriegslied wird wieder allabendlich zum Sendeschluß kurz vor 22 Uhr gespielt. 

„Lili Marleen“, die Sehnsuchtsmelodie getrennter Paare, entwickelt sich zum ersten „Millionenseller“ der deutschen Musikgeschichte, die Platte wird mehr als zwei Millionen Mal verkauft. Aber auch für die Soldaten anderer Länder ist „Lili Marleen“ der Herzens-Hit. Das Lied erklingt an allen Fronten, in Dutzenden von Übersetzungen. Und meistens schweigen dabei die Waffen. Die Soldaten denken an ihre Lieben zu Hause, hoffen auf eine unversehrte, glückliche Heimkehr. 

Dem NS-Regime mißfällt das Lied wegen seiner „wehrkraftzersetzenden Wirkung“. Es wird vorübergehend verboten, man schließt Lale Andersen aus der Reichskulturkammer aus, sie erhält Auftrittsverbot. Erst als die BBC 1943 die Falschmeldung verbreitet, Goebbels habe den Liebling der Soldaten in einem Konzentrationslager verschwinden lassen, kann sie wieder öffentlich auftreten. Die Bedingung: Nie wieder darf sie vor Publikum „Lili Marleen“ singen, obwohl Radio Belgrad das Lied weiter sendet. Keiner engagiert sie mehr, sie kann kaum noch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Man droht Lale Andersen sogar mit Inhaftierung, weil sie Post aus dem Ausland erhält. Schließlich bleibt für die verzweifelte Sängerin nur noch die Flucht nach Langeoog. Dort wohnt sie zunächst mit Sohn Michael bei Freunden. Als die kanadischen Besatzer abziehen, schenken sie ihr eine Wehrmachtsbaracke. Lale läßt die Bruchbude zu ihrem Traumhaus „Sonnenhof“ umbauen. Hier, am Meeresstrand, will sie endlich Wurzeln schlagen.

Sie tritt oft im Fernsehen auf, in der Hitparade steht sie ganz oben

Nach dem Krieg geht es dann wieder aufwärts. Die Legende lebt, feiert ein Comeback. Schon im Herbst 1945 ruft der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg, den die Engländer leiten. Und es kommt Post aus der Schweiz, die sie aufwühlt, von Rolf Liebermann, dem späteren Intendanten der Hamburger und der Pariser Oper. Lale Andersen hatte ihn 1937 kennengelernt. Er war die große Liebe ihres Lebens. Vor dem Weltkrieg lebte sie einige Zeit mit ihm in Zürich. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, sitzt Liebermann, der aus einer berühmten jüdischen Familie in Berlin stammt, in der Schweiz fest. Lale Andersen muß nach Deutschland zurück. Es kommt nach dem Krieg noch zu einem kurzen Wiedersehen am Bodensee. Doch die große Leidenschaft ist erloschen. Als sie am Ende ihres stürmischen Lebens ihre Autobiographie „Der Himmel hat viele Farben“ (1972) schreibt, lauten immerhin die ersten Worte: „Für Rolf“.

Lale Andersen stürzt sich in die Arbeit, ist in der Nachkriegszeit sehr erfolgreich. Sie tritt oft im Fernsehen auf, unter anderem in der Unterhaltungsshow „Haifischbar“, besingt Schallplatten auch auf plattdeutsch. Ihr sentimentales Lied „Blaue Nacht am Hafen“ (1951) landet in der Hitparade ganz oben. Und „Ein Schiff wird kommen“ wird in der Andersen-Version 1960 erfolgreicher als die von Melina Mercouri. Im Jahr darauf vertritt sie Deutschland mit dem Lied „Einmal sehen wir uns wieder“ beim Grand Prix Eurovision in Cannes. Ihr Terminkalender ist randvoll, sie braust mit ihrem blauen Opel Cabrio zwischen dem neuen Wohnsitz München und ihrem Rückzugsort Langeoog hin und her. 

Ab 1949 hat sie auch noch einen neuen Ehemann, den Schweizer Musikkomponisten Artur Beul. Er schreibt für sie Volkslieder wie „Die Fischer von Langeoog“ und „Lieselott vom Weserdeich“. Zeitweise lebt sie auch bei ihm in Zollikon am Zürichsee. Dabei hat sie immer eine Vase mit Inselsand. „Die Insel war meine Rettung“, sagt sie später, „auf ihr fand ich meinen Seelenfrieden.“

Auch in der Liebe bleibt Lale Andersen eine selbstbestimmte Frau, die sich von den Männern ihres Lebens freundschaftlich verabschiedet. Doch ihre große Liebe Nordsee hält lebenslang. Das Lied „Över de stillen Straten“ ist ihr so lieb, daß sie verfügt, es solle bei ihrer Beerdigung auf Langeoog gespielt werden. Am 29. August 1972 erliegt Lale Andersen in Wien einem Leberkrebsleiden. 

Obwohl sie in ihrem Testament bestimmt hat, auf ihrer letzten Reise nicht von „Lili Marleen“ begleitet zu werden, erfüllt man ihren Wunsch nicht. An ihrem Grab auf dem Dünenfriedhof auf Langeoog erklingt ihr Schicksalslied … 






Peter Hain, Jahrgang 1940, hörte als junger Bundeswehrsoldat Lale Andersen noch live, als sie im September 1960 in einem Bierzelt in Fürstenfeldbruck auftrat.

Lale Andersen Blaue Nacht am Hafen – 50 große Erfolge 2 CDs Musictales 2016  https://lale-andersen.de